Mittwoch, 18. Oktober 2017

Wer macht das warum? Neue Erkenntnisse über die Menschen in der boomenden Welt der Nebenjobber


Erst vor kurzem wurde berichtet, dass 3,2 Millionen Menschen einen Nebenjob haben. Oder sogar mehrere. Die neuen Zahlen wurden in diesem Beitrag vom 13. Oktober 2017 diskutiert: Der Trend geht zum Zweitjob. Für die einen aus der Not heraus, für einige andere hingegen ganz im Gegenteil. Darin findet man auch Hinweise auf die Debatte, wofür diese Entwicklung denn nun steht: Die eine Seite argumentiert so - in den Worten von Sabine Zimmermann, Bundestagsabgeordnete der Linken: "Für immer mehr Beschäftigte reicht das Einkommen aus einem Job nicht mehr aus. Der überwiegende Teil dürfte aus purer finanzieller Not mehr als einen Job haben und nicht freiwillig." Und die andere Seite hat sich in Gestalt des arbeitgebernahen Instituts der deutschen Wirtschaft (IW) zu Wort gemeldet und sieht das ganz anders: »3,2 Millionen Menschen in Deutschland gehen zusätzlich zu ihrem Hauptjob einer Nebenbeschäftigung nach – rund eine Million mehr als vor zehn Jahren ... Ein Grund zur Aufregung ist das aber nicht: Nebenjobber sind sogar oft sozial besser gestellt als andere Beschäftigte.« Diese Position wurde in dem Blog-Beitrag kritisch hinterfragt. Es wurde aber auch darauf hingewiesen, »dass wir derzeit schlichtweg nicht halbwegs gesichert wissen, wie sich die ganz unterschiedlichen Motive bei den Nebenjobbern darstellen« - sehr wohl aber kennen wir den ökonomisch wirkkräftigen Mechanismus der Subventionierung der Minijobs, über den die Mehrzahl der Nebenjobs abgewickelt werden, in Verbindung mit einer "win-win-Situation" für Arbeitnehmer und Arbeitgeber.

Nun kann zumindest hinsichtlich der Motivfrage berichtet werden, dass einige neue empirische Befunde veröffentlicht wurden, die mehr Klarheit bringen und die zugleich die sonnige Perspektive des IW verdunkeln.

Konkret handelt es sich um diese Studie aus dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit:

Sabine Klinger und Enzo Weber (2017): Zweitbeschäftigungen in Deutschland: Immer mehr Menschen haben einen Nebenjob. IAB-Kurzbericht Nr. 22/2017, Nürnberg 2017

Über drei Millionen Menschen in Deutschland gehen mehr als einer Erwerbstätigkeit nach. Ihre Anzahl und ihr Anteil an allen Beschäftigten haben sich seit 2003 mehr als verdoppelt. Wer sind diese Millionen Nebenjobber? In welchen Berufen sind sie besonders häufig vertreten? Wovon hängt es ab, ob jemand einen Nebenjob ausübt? Diesen Fragen sind die IAB-Wissenschaftler nachgegangen, in dem sie die Personenmerkmale der Nebenjobber und die Merkmale der beiden Beschäftigungen (Hauptjob und Nebenjob) anhand einer stichtagsbezogenen Auswertung der Beschäftigtenhistorik analysiert haben.

Die Forscher haben sich an einer beeindruckenden Datenquelle bedient - die IAB-Beschäftigtenhistorik (BeH), eine vollständige, historisierte und aufbereitete Sammlung von Verwaltungsdaten der Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung. Darin werden Entgeltmeldungen der Arbeitgeber berücksichtigt, also Jahres-, Unterbrechungs- und Abmeldungen sowie Meldungen zur Sozialversicherung. Damit sind sämtliche Zeiträume erfasst, in denen eine Person sozialversicherungspflichtig und/oder geringfügig entlohnt beschäftigt war.

Zu welchen Ergebnissen kommt die Studie? Unter den Nebenjobbern sind Frauen, Personen mittleren Alters sowie Personen mit Hauptberufen in Verwaltung und Büro, in Allgemeinen Dienstleistungen, im Verkehr, im Gesundheitswesen sowie in Sozial- und Erziehungsberufen überdurchschnittlich häufig vertreten. Ein Drittel der Mehrfachbeschäftigten übt im Haupt- und im Nebenjob denselben Beruf aus. Mit Blick auf das Einkommen besteht die höchste Wahrscheinlichkeit für einen Nebenjob im untersten Lohnsegment; mit steigendem Entgelt sinkt sie relativ rasch. Über die gesamte Entgeltverteilung hinweg üben eher Teilzeit- als Vollzeitbeschäftigte einen weiteren Job aus.

Diese Befunde stützen nicht wirklich die These, dass es überwiegend die besser gestellten Arbeitnehmer sind und auch das angebliche Motiv, aus Spaß an der Arbeit zu arbeiten, relativiert sich doch erheblich für die große Masse.

Das kann man auch solchen Berichten entnehmen: Viele Angestellte brauchen Zweitjob in Frankfurt: Trotz Mindestlohn kommen viele Angestellte mit ihrem Gehalt nicht über die Runden. Besonders Beschäftigte in der Gastronomie sind betroffen. »Über 4.000 Minijobber gibt es allein im Frankfurter Gastgewerbe. Darauf hat jetzt der Geschäftsführer der Gewerkschaft „Nahrung, Genuss, Gaststätten“, Peter-Martin Cox, hingewiesen ... Danach ist die Zahl der Erwerbstätigen, die neben einem sozialversicherungspflichtigen Arbeitsplatz noch einen Minijob haben, im Gastgewerbe in den letzten zehn Jahren um 130 Prozent gestiegen. Branchenübergreifend gebe es rund 32.200 Zweitjobber in der Stadt – das seien im Vergleich zu 2007 etwa 46 Prozent mehr.«

Die IAB-Forscher können zeigen, dass die größte Gruppe der Nebenjobber aus diesen Personen besteht: Menschen, die in zwei Jobs arbeiten, weil ihre Haupttätigkeiten zu wenig verdienen und deshalb auf das Einkommen im Nebenjob angewiesen sind sowie Menschen, die im Hauptjob nur eine Teilzeitstelle bekommen und gerne mehr arbeiten würden. Deshalb sind ja auch Frauen und Geringverdiener in der Gruppe der Nebenjobber überproportional vertreten.
Natürlich gibt es auch eine andere, allerdings deutlich kleinere Gruppe: Menschen, die vor allem aus Prestige- und/oder Spaßgründen in einem zweiten Job arbeiten, beispielsweise Angestellte, die nach Feierabend noch mit einer Band Konzerte geben.

Man erkennt in der IAB-Abbildung am Anfang dieses Beitrags den starken und anhaltenden Anstieg der Zahl der Nebenjobber seit dem Jahr 2003 - und der geht eben auch auf das Konto gesetzgeberischer Veränderungen. Darauf hatte ich bereits in meinem letzten Beitrag hingewiesen: Der Gesetzgeber hat 2003 massiv eingegriffen. Damals wurden Minijobs auch als Nebentätigkeit zugelassen, was sowohl für Beschäftigte als auch für Unternehmer hoch attraktiv war. Beschäftigte können neben ihrem Hauptjob steuer- und abgabenfrei hinzuverdienen. Nebentätigkeiten im Minijob sind damit deutlich attraktiver als Überstunden.

Dieser Aspekt wurde auch in der Berichterstattung über die neue IAB-Studie aufgegriffen: Die Brutto-für-netto-Falle, so ist beispielsweise der Artikel von Alexander Hagelüken in der Süddeutschen Zeitung überschrieben: »Die Subventionierung der inzwischen drei Millionen Nebenjobber steigert die Altersarmut.« Hier findet man einen konkreten Beispielfall, der durchaus stellvertretend für viele andere Nebenjobber steht:

»Gudrun F. verlor in ihrem Beruf als Grafikerin den Anschluss, nachdem sie jahrelang pausiert hatte. Erst wegen ihrer Kinder, später wegen der pflegebedürftigen Schwiegereltern. 40 Stunden in der Woche stellt die Mittfünfzigerin inzwischen keine Firma mehr ein, sie bekommt nur Teilzeitjobs angeboten. Meist nicht in ihrem angestammten Beruf, sondern als Verkäuferin oder in der Küche, meist zum Niedriglohn. Seit ihrer Scheidung reicht ihr das nicht zum Leben, sagt sie, "insbesondere wegen der steigenden Mieten".

Der Ausweg: ein 450-Euro-Zusatzjob, bei dem sie keine Steuern und Sozialabgaben zahlen muss. Das bringt auf einen Schlag mehr Geld. Auch wenn sie den Zweitjob anstrengend findet, gerade wegen der Einsätze abends und am Wochenende und der zusätzlichen Fahrten.«

Man kann das auch strukturell so einordnen: »Dienstleistungen sind generell schlechter bezahlt. Sie lassen sich leichter in Teilzeit aufspalten - und die Unternehmen nutzen diese Möglichkeit. Die insgesamt starke Zunahme der Teilzeit ist häufig das Motiv für einen Nebenjob. Wie andere Studien zeigen, möchte jeder dritte Teilzeitler mehr arbeiten, als er das in seinem Hauptjob kann.« Hier ist eine der sprudelnden Quellen für die Zunahme der Nebenjobber, denn die »haben oft einen Hauptberuf, der schlechter bezahlt wird, etwa im Gesundheits- und Sozialwesen, in Verwaltung und Büro. Sie verdienen im Schnitt 600 Euro weniger im Monat als Arbeitnehmer ohne Nebenjob.«

Und Tobias Kaiser hat seinen Beitrag über die Studie so überschrieben: Experten fordern Abschaffung der Minijobs. Er weist darauf hin, dass in der Studie kritisiert wird, dass der Staat die sogenannten Minijobs durch Steuer- und Abgabenfreiheit subventioniert.

Schauen wir hierzu in die Studie selbst. Zuerst die Diagnose: »Besonders stark legte die Kombination von sozialversicherungspflichtiger Hauptbeschäftigung mit einem Minijob zu; fast 90 Prozent der Nebenjobber nutzen sie mittlerweile. Ein Grund liegt in der für Arbeitnehmer weitgehenden Befreiung der geringfügigen Zweitbeschäftigung von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen, die 2003 (wieder) in Kraft trat.« (Klinger/Weber 2017: 11). Und weiter:
»Die Begünstigung einer zweiten Beschäftigung bei einem anderen Arbeitgeber ist aber nicht das richtige Instrument ... Erstens profitieren von der Regelung auch viele Gutverdiener. Zweitens leisten kleine Nebenjobs gerade für die Personen, für die es besonders wichtig wäre, kaum einen Beitrag für eine nachhaltige berufliche Entwicklung und Alterssicherung.«

Zu den möglichen Konsequenzen kann man der Studie des IAB entnehmen:

»Natürlich verteuert es den Minijob als Nebenjob, wenn seine Begünstigung abgeschafft würde. Dies würde zwar die schwer begründbare Besserstellung gegenüber sozialversicherungspflichtigen Nebenjobs aufheben, könnte aber gerade Schwächeren im Arbeitsmarkt auch ihre Verdienstmöglichkeiten erschweren. Deshalb sollte im Gegenzug Arbeit in der Hauptbeschäftigung gestärkt werden. Denkbar ist eine Entlastung niedriger Verdienste bei den Sozialabgaben. Da eine solche Entlastung auch zu sozialer Umverteilung führt, könnte sie alternativ über das Steuersystem organisiert werden. Im Kern geht es darum, dass sozialversicherungspflichtige Hauptbeschäftigungen auch bei geringen Brutto-Einkommen für Arbeitnehmer und Arbeitgeber attraktiver werden. Letztlich führt dies auch dazu, dass mehr solcher Jobs mit einer größeren Stundenzahl entstehen.«

Dadurch würde einerseits das Motiv, aus Beschränkungen der Arbeitszeit (und dadurch des Einkommens) im sozialversicherungspflichtigen Hauptjob einen Minijob aufzunehmen (und das eben oftmals, um über die Runden kommen zu können), an Bedeutung verlieren, zum anderen würde die Chance bestehen, dass bislang ausschließlich geringfügig Beschäftigte in den sozialversicherungspflichtigen Bereich hineinwachsen aufgrund der Umwandlung von Minijobs, eine Entwicklung, die ja bereits nach der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2015 und der damit verbundenen Verteuerung der Minijobs zu beobachten war.

"Die Menschen im Nebenjob zu entlasten, setzt sie nur auf das falsche Gleis." Mit diesen Worten wird Sabine Klinger zitiert. Das ist richtig und die möglichen Alternativen liegen vor. Das wäre doch eine Gelegenheit für die wahrscheinliche Jamaika-Koalition. Passenderweise haben die Sondierungsgespräche, die zu Koalitionsgesprächen führen sollen, heute begonnen.

Dass die das aufgreifen und in das Regierungsprogramm aufnehmen werden, wäre angemessen und schön, aber leider derzeit erkennbar wenig wahrscheinlich. Eher vom Gegenteil muss man ausgehen, denn aus der Union wurde bereits die Forderung vernommen, die bisherige Entgeltgrenze von 450 Euro pro Monat anzuheben. Man wolle "den mitwachsenden Minijob" realisieren. Eine Umsetzung dieses Gedankens würde zu einer Entgeltgrenze von 550 Euro pro Monat führen, wie Berechnungen des DGB ergeben haben. Und die FDP? Die will die Minijobgrenze in einem ersten Schritt auf 530,40 Euro anheben und danach Stück für Stück mit der Lohnentwicklung anpassen.
Sollte man diesen Pfad einschlagen, dann wird das mit den Nebenjobs noch mehr zunehmen. Aber vielleicht siegt ja doch noch die arbeitsmarktpolitische Vernunft am Ende der vielen Sondierungsgespräche- und Verhandlungstage. Die Hoffnung stirbt bekanntlich zuletzt.