Montag, 23. Oktober 2017

Ein längsschnittiger Zahlen-Blick auf arme Kinder, die in armen Familien leben. Und was man tun könnte oder sollte


Eine Studie und viele Schlagzeilen: Kinderarmut ist in Deutschland ein Dauerzustand: »Jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut. Und wer einmal abgehängt ist, bleibt es meist. Die Zahlen sind nicht neu, aber umso alarmierender«, kommentiert Ulrike Heidenreich in der Süddeutschen Zeitung. Einmal unten, immer unten, so Spiegel Online. Jedes fünfte Kind lebt dauerhaft in Armut lautet eine weitere Überschrift. Bei der hier sollte man schon mehr als vorsichtig sein: In Deutschland bildet sich eine neue Unterschicht. Das alles geht zurück auf eine Studie des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit, die im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung erstellt und jetzt veröffentlicht wurde: Silke Tophoven et al. (2017): Armutsmuster in Kindheit und Jugend. Längsschnittbetrachtungen von Kinderarmut, Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung, 2017.

Das Besondere der neuen Studie wird von den Autoren so beschrieben:

»Neben einer regelmäßigen Berichterstattung zum aktuellen Umfang der Armutsgefährdung von Kindern zu einem bestimmten Zeitpunkt (Querschnittsbetrachtung) ermöglicht eine Betrachtung von Armut mithilfe wiederholter Befragungen derselben Personen (Längsschnittbetrachtung) ein noch tiefergehendes und differenzierteres Bild von Armut. So wird nicht nur die aktuelle Einkommenslage eines Haushalts oder einer Person beschrieben, sondern es können individuelle Dauern und Wechsel zwischen verschiedenen Einkommenslagen und ihre Dynamik im Zeitverlauf abgebildet werden. Damit lassen sich verschiedene Muster von Armut während der Kindheit identifizieren. Eine Längsschnittbetrachtung wird der zeitlichen Dimension von Armut gerecht und erlaubt zwischen dauerhaften oder temporären Armutslagen zu unterscheiden. Dies ist nicht nur für die Beschreibung von Kinderarmut, sondern auch für die Analyse ihrer Folgen relevant.« (Tophoven et al. 2017: 9)

Zur Methodik kann man der Studie entnehmen: »Den vorliegenden Analysen liegen Daten der Längsschnittstudie „Panel Arbeitsmarkt und soziale Sicherung“ (PASS) zugrunde. In der für Deutschland repräsentativen Studie werden seit 2006 jährlich circa 15.000 Personen ab 15 Jahren in den teilnehmenden Haushalten zu ihrer materiellen und sozialen Lage wie z. B. Einkommen, Transferleistungsbezug, Wohnen, Erwerbstätigkeit, Gesundheit und soziale Teilhabe befragt. Für die dynamische Betrachtung der Armutslagen in der Kindheit wird die Einkommenslage im Haushalt von insgesamt 3.180 Kindern im Zeitverlauf über jeweils fünf zusammenhängende Befragungszeitpunkte analysiert.« (S. 9)

Die Bertelsmann-Stiftung berichtet über die neuem Studie unter der Überschrift Kinderarmut ist in Deutschland oft ein Dauerzustand: »In Deutschland leben rund 21 Prozent aller Kinder mindestens fünf Jahre dauerhaft oder wiederkehrend in einer Armutslage. Für weitere 10 Prozent ist das ein kurzzeitiges Phänomen.«

Besonders von Armut bedroht sind drei Gruppen: Kinder alleinerziehender Eltern, Kinder mit mindestens zwei Geschwistern und Kinder mit geringqualifizierten Eltern.

Für die Studie wurde für 23 Güter und Aspekte sozialer Teilhabe abgefragt, ob diese in Familien aus finanziellen Gründen fehlen. »Die Liste umfasst Dinge, wie eine ausreichend große Wohnung, eine Waschmaschine, einen internetfähigen Computer, aber auch die Möglichkeit, im Monat einen festen Betrag sparen zu können. Gesellschaftliche Aspekte, wie ein monatlicher Kinobesuch oder Freunde zum Essen nach Hause einladen zu können, wurden ebenfalls berücksichtigt. Das Ergebnis: Durchschnittlich fehlen Kindern in einer dauerhaften Armutslage 7,3 der 23 Güter, Kindern, die kurzzeitig von Armut betroffen sind, 3,4 Güter. Dagegen müssen Kinder aus Familien mit sicherem Einkommen im Schnitt nur auf 1,3 Güter verzichten.«

An den konstant hohen Kinderarmutszahlen haben weder der wirtschaftliche Aufschwung und die damit verbundene sinkende Arbeitslosigkeit noch Reformen familien- und sozialpolitischer Leistungen etwas geändert. Vor diesem Hintergrund besonders bedeutsam ist dann diese Frage: Wie sieht es aus mit den Konsequenzen, die man aus der Studie ziehen kann und sollte? Dazu erfahren wir von Jörg Dräger und Anette Stein von der Bertelsmann-Stiftung im Vorwort zur IAB-Studie:

»Kinder und Jugendliche gehören nicht in ein System des „Forderns und Förderns“. Sie können sich nicht selbst aus Armut befreien, haben aber ein Recht auf gutes Aufwachsen und Teilhabe – und zwar unabhängig von ihrem familiären Hintergrund. Ihre Existenzsicherung darf sich nicht wie bisher am untersten Einkommensrand der Gesellschaft orientieren, wo Unterversorgung und Ausgrenzung bereits vielfach zum Alltag dazugehören.«

»Daher brauchen wir ein neues System der Existenzsicherung für Kinder und Jugendliche, das deren Rechte, Bedarfe und Interessen in den Mittelpunkt stellt, sie selbst befragt und aktiv beteiligt.«

Ein solches Konzept für eine neue Existenzsicherung von Kindern und Jugendlichen besteht aus drei Bausteinen:
  1. Einem neuen, kontinuierlichen Instrument der Bedarfserhebung für und mit Kindern und Jugendlichen, um ihre tatsächlichen Bedarfe empirisch zu erfassen. Notwendig sind dabei verschiedene Erhebungs- und Beteiligungsformate in einem Mixed-Method-Design (z. B. Befragung, Interviews, Kinderkonferenzen).
  2. Einer neuen finanziellen Leistung für Kinder und Jugendliche – dem Teilhabegeld , das bisherige Leistungen (Kindergeld, SGB-II-Regelsätze für Kinder, Kinderzuschlag und Leistungen des Bildungs- und Teilhabepakets) ersetzt. Die neue Leistung ist steuerfinanziert und wird einkommensabhängig abgeschmolzen. Ihre Höhe wird auf Basis der empirischen Erkenntnisse aus der Bedarfserhebung von einer interdisziplinär zusammengesetzten Sachverständigenkommission unter Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in regelmäßigen Abständen festgelegt.
  3. Einem erreichbaren, kompetenten und unbürokratischen Unterstützungssystem, das für Kinder und Familien vertrauensvolle, wohnort- und lebensnahe Anlaufstellen bereitstellt, in denen sie über alle relevanten Leistungen und Maßnahmen informiert und dazu umfassend beraten werden. Auch Anträge für finanzielle Unterstützung werden hier gestellt und an entsprechende Ämter weitergeleitet. Das erfordert Reformen in der öffentlichen Verwaltung, aber auch gute Rahmenbedingungen (Personalkapazitäten, Qualifizierung, Räumlichkeiten) für die Arbeit der Ansprechpartner vor Ort.
Das sind erste Vorschläge, die sich zum einen aus anderen Arbeiten speisen bzw. an diese anschlussfähig sind. Beispielsweise an die Forderung des Bündnis Kindergrundsicherung, das von dieser Prämisse ausgeht: »Das Problem der Kinderarmut lässt sich nachhaltig weder über eine geringfügige Anhebung des Kindergeldes noch über die Ausweitung des Kinderzuschlags oder über eine Erhöhung der Regelsätze in der Grundsicherung rasch, zielgerichtet und befriedigend lösen.«

Das Bündnis beschreibt die Widersprüche, mit denen wir gegenwärtig konfrontiert werden:

»Aktuell werden Kinder je nach Erwerbssituation ihrer Eltern höchst ungleich finanziell gefördert: Kinder von Erwerbslosen bzw. Geringverdienern/innen beziehen je nach ihrem Alter Sozialgeld in Höhe von 237 bis 311 Euro pro Monat.

Kinder von Erwerbstätigen mit unteren und mittleren Einkommen erhalten monatlich 192 Euro (für das erste und zweite Kind), 198 Euro (für das dritte Kind) und 223 Euro (für das vierte und alle weiteren Kinder) Kindergeld. Die Kinder von Gut- und Spitzenverdiener/innen hingegen profitieren mit steigendem Einkommen von den steuerlichen Kinderfreibeträgen. Diese wirken sich aufgrund des progressiven Steuersystems bei den höchsten Einkommen am stärksten aus. Aktuell beträgt die maximale Entlastung aufgrund der Freibeträge gut 290 Euro monatlich. Zusätzlich können Bezieher/innen hoher Einkommen ihre Ausgaben für häusliche Kinderbetreuung und/oder für Privatschulen steuersparend absetzen.«

Der Vorschlag lautet, künftig alle Kinder mit einer Kindergrundsicherung in Höhe von 573 Euro monatlich abzusichern. Damit wird der grundlegende Bedarf, den Kinder für ihre Entwicklung benötigen und den das Bundesverfassungsgericht festgestellt hat, aus öffentlichen Mitteln gedeckt. Die Höhe unserer Kindergrundsicherung orientiert sich dabei am aktuellen soziokulturellen Existenzminimum und soll stetig an die Inflationsrate angepasst werden.

Zur konkreten Ausgestaltung sagt das Bündnis:

»Wir favorisieren eine gestufte Kindergrundsicherung, die allen Kindern das sächliche Existenzminimum in Höhe von 393 Euro als unbürokratische Leistung garantiert. Bis der Staat sämtliche Leistungen für Bildung, Betreuung und Erziehung gebührenfrei zur Verfügung stellt, fordern wir einen weiteren Betrag in Höhe von 180 Euro.

Um sie sozial gerecht bzw. entsprechend der finanziellen Leistungsfähigkeit der Eltern auszugestalten, soll sie mit dem Grenzsteuersatz des elterlichen Einkommens versteuert werden. Im Ergebnis erhalten Kinder und ihre Familien einen Mindestbetrag von ca. 290 Euro, der in etwa der maximalen Entlastung durch die derzeitigen Kinderfreibeträge entspricht. Je niedriger das Familieneinkommen ist, desto höher fällt der Betrag der Kindergrundsicherung aus.«
Und dann folgt ein wichtiger Satz: »Geldleistungen und Infrastrukturleistungen des Staates dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden.«

Das wird ja auch in den Vorschlägen der Stiftung angesprochen. Da werden "vertrauensvolle, wohnort- und lebensnahe Anlaufstellen" für Kinder und Familien gefordert. Darüber muss man diskutieren, auch kritisch, stellen sich hier vergleichbare Probleme wie in anderen sozialpolitischen Handlungsfeldern, beispielsweise bei der Forderung nach einer Aufwertung und einem Ausbau der kommunalen Altenhilfe (nicht nur im Sinne einer Reduktion auf Pflegestützpunkte). Aber man muss auch ehrlich sein - die Realität ist hier meilenweit entfernt von den vorliegenden Konzepten, die theoretisch überzeugen mögen.

Der "systemrelevante" Knackpunkt wäre - was in den Empfehlungen nicht angesprochen wird - eine Berücksichtigung des Grundsatzes, Ungleiches ungleich zu behandeln. Konkret würde das bedeuten, dass man angesichts der sozialräumlichen Konzentration unterschiedlicher Einkommenslagen und Sozialverhältnisse dort, wir viele der einkommensarmen Kinder leben müssen, die Infrastruktur nicht nur irgendwie berücksichtigt, sondern die für Kinder wichtigen Institutionen wie Kita, Schule, außerschulische Angebote um ein mehrfaches besser ausstattet als das in den wohlhabenden Gegenden der Fall ist. Das würde natürlich eine bewusste und erhebliche Umverteilung bedeuten, die von den Politikern auch offensiv vertreten werden müsste.

Die wirkliche Wirklichkeit sieht derzeit gerade da, wo wir viele Kinder haben, deren Familien in Armut leben müssen, oftmals eine ganz andere. So wurde beispielsweise für Berlin - wo fast jedes dritte Kind in einem Hartz IV-Haushalt leben muss - berichtet, dass jeder zweite neue Grundschullehrer ein Seiteneinsteiger, also ohne Lehramtsstudium in den Schuldienst gekommen ist (vgl. Mehr ungelernte Lehrer als je zuvor). Bei der Verteilung auf die einzelnen Grundschulen musste man dann zur Kenntnis nehmen, dass die höchsten Anteile an Seiteneinsteiger bei den Schulen zu verzeichnen sind, die in "sozialen Brennpunkten" liegen. Mit solchen und anderen Ungleichgewichten wird die sowieso schon ablaufende schwertförmige Auseinanderentwicklung weiter vorangetrieben. Es ist noch ein langer Weg, wenn man das denn wirklich aufhalten und wenigstens teilweise umkehren wollte.