Montag, 15. Mai 2017

Wie weiter mit der Erwerbsminderungsrente? Die Bundesregierung will die verbessern, aber nur für die Zukunft und wieder nur in kleinen Schritten

Menschen, die aufgrund von Krankheit oder anderen Einschränkungen nur vermindert erwerbstätig sind, sollen in Zukunft besser abgesichert werden. Dies sieht ein Entwurf der Bundesregierung zur Verbesserung der Leistungen bei Renten wegen verminderter Erwerbstätigkeit vor. Gemäß der Gesetzesvorlage der Bundesregierung sollen Menschen, die vermindert erwerbstätig sind, in Zukunft besser abgesichert werden. Dazu soll die sogenannte Zurechnungszeit vom aktuell 62. Lebensjahr schrittweise auf das vollendete 65. Lebensjahr angehoben werden. Mit der Zurechnungszeit sollen geringe Renten vermieden werden, wenn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer aufgrund von Krankheit oder anderen Einschränkungen eine Erwerbsminderungsrente in Anspruch nehmen müssen. Aufgrund ihrer geringen Zeit als Beitragszahler ergebe sich nur ein niedriger Rentenanspruch, so die Bundesregierung. Mit der neuen Regelung sollen zukünftige Erwerbsgeminderte, also neue Erwerbsminderungsrentner ab 2018 schrittweise bessergestellt werden.

Die Fraktion Die Linke hat einen Antrag Die Erwerbsminderungsrente stärken und den Zugang erleichtern vorgelegt, in dem die Antragsteller Änderungen am Entwurf der Bundesregierung fordern. Der Gesetzentwurf verbessere nur die Situation derer, die erwerbsunfähig werden, aber nicht derjenigen, die bereits Erwerbsminderungsrente beziehen. Um die Betroffenen vor Armut zu schützen, sollen daher die Zurechnungszeiten zum 1. Januar 2018 in einem Schritt vom 62. auf das 65. Lebensjahr verlängert werden. Zudem sollen die erwerbsunfähigen Rentnerinnen und Rentner nicht wie bisher vor Eintritt in eine Erwerbsminderung drei Jahre Pflichtbeträge gezahlt haben müssen, sondern nur zwei Jahre. Ebenso sollen Rentenabschläge wegen Erwerbsminderung für gegenwärtige und zukünftige Empfängerinnen und Empfänger abgeschafft werden.


Für das Jahr 2015 wurden 1,8 Millionen Menschen mit Bezug einer Erwerbsminderungsrente in der Statistik der Deutschen Rentenversicherung ausgewiesen. Jedes Jahr kommen im Schnitt der zurückliegenden Jahre 170.000 neue Erwerbsminderungsrentner hinzu, das entspricht etwa 20 Prozent der Neuzugänge in den Rentenbezug, also jeder fünfte Neurentner ist auf diese Leistungen angewiesen.

Immer wieder wird beschrieben, welche besonderen Probleme im Bereich der Erwerbsminderungsrente zu beobachten sind:

Zum einen sind die Zahlbeträge schon im Durchschnitt deutlich niedriger als bei den Altersrenten, zum anderen haben sich bis kurz vor dem aktuellen Rand der Zeitreihe die an sich schon niedrigen Zahlbeträge für Neuzugänge deutlich reduziert (vgl. dazu die Abbildung 1).

Bei den Neuzugängen dominieren die mittleren Zahlbetragsgruppen (600 - 1.050 Euro) – gleichzeitig befindet sich ein nicht geringer Anteil der Erwerbsminderungsrentner im Bereich der Niedrigrenten. Diese (weniger als 450 Euro) fallen zu 26,9 Prozent (Männer) bzw. zu 25,8 Prozent (Frauen) an. Überhaupt nicht zu finden sind hohe Erwerbsminderungsrenten (mehr als 1.500 Euro).

Das hat nicht nur für die Betroffenen handfeste Folgen. Es wird immer wieder darauf hingewiesen, dass die Erwerbsminderungsrentner weit überdurchschnittlich im Bezug von Grundsicherungsleistungen vertreten sind. Während 2015 „nur“ 2,7 Prozent der Altersrentner auf Leistungen der Grundsicherung im Alter zurückgreifen und die unzureichende Rente aufstocken mussten, belief sich dieser Anteilswert bei den Erwerbsminderungsrentnern auf „offiziell“ 15,4 Prozent. Dabei muss nicht nur (bei beiden Anteilswerten) berücksichtigt werden, dass die sogenannte „Dunkelziffer“ immer noch hoch ist, also die Nicht-Inanspruchnahme eigentlich zustehender Leistungsansprüche im Grundsicherungssystem nach SGB XII. Vgl. dazu beispielsweise die Arbeiten der Verteilungsforscherin Irene Becker. Hinzu kommt: Die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung ist auf dauerhaft voll Erwerbsgeminderte begrenzt. Zeitlich befristete EM-Rentner sowie teilweise Erwerbsgeminderte haben keinen Anspruch. Teilweise Erwerbsgeminderte werden, sofern sie kein oder kein ausreichendes Erwerbseinkommen aus Teilzeitarbeit erzielen, auf das SGB II verwiesen, zeitlich befristete EM-Vollrentner) auf die Sozialhilfe. Beide Gruppen tauchen deshalb in den Zahlen der Grundsicherungsempfänger nicht auf.

Bereits an dieser Stelle sei auf fundamentalen Unterschied zwischen der Erwerbsminderungsrente und den Leistungen aus dem Grundsicherungssystem hingewiesen. Die Grundsicherungsleistungen werden nur nach einer entsprechenden Bedürftigkeitsprüfung gewährt, mit allen bekannten Folgen wie Einkommens- und Vermögensanrechnung. Leistungen wie die Erwerbsminderungsrente haben als Versicherungsleistungen einen ganz anderen Stellenwert – auch und gerade für die betroffenen Menschen.

Der durchschnittliche Zahlbetrag der im Jahr 2015 neu zugegangenen 174.328 Erwerbsminderungsrenten (EM-Renten) betrug 671 Euro im Westen und 679 Euro im Osten. Seit der Jahrtausendwende befinden sich die EM-Renten im Sinkflug.


Die überdurchschnittlich hohe Betroffenheit der Erwerbsminderungsrentner von Grundsicherungsleistungen im Vergleich zu den „normalen“ Altersrentnern wurde bereits angesprochen. Allerdings führen die dort ausgewiesenen mehr als 15 Prozent neben der Dunkelzifferproblematik zu einer völligen Unterschätzung der Armutsproblematik. Schon heute sind 40 Prozent der Menschen, die in Haushalten von Erwerbsminderungsrentnern leben, von Armut bedroht – wenn man sich nicht auf die Zahl der Grundsicherungsempfänger/innen reduzieren lässt, sondern die offizielle Definition der Armutsgefährdungsquote als Maßstab heranzieht.

Der Gesetzgeber hat bereits in dieser Legislaturperiode auf die Entwicklung reagiert. Mit dem GRV-Leistungsverbesserungsgesetz wurde ab Juli 2014
  • die Zurechnungszeit um zwei Jahre auf das 62. Lebensjahr verlängert 
  • und zum anderen wurde eine „Günstigerprüfung“ eingeführt: Bei der Berechnung der Zurechnungszeit seit 1. Juli 2014 die letzten vier Jahre vor der Erwerbsminderung unberücksichtigt, wenn der Verdienst etwa aus gesundheitlichen Gründen bereits eingeschränkt war und diese Jahre den Rentenanspruch mindern würden. Das ist eine wichtige Verbesserung bei den versicherungsrechtlichen Voraussetzungen für einen EM-Rentenbezug, denn oftmals ist es so, dass in den Jahren vor dem EM-Rentenbezug bereits die Arbeitszeit reduziert wurde oder andere das Arbeitsentgelt reduzierende Konstellationen vorliegen
Für die Neurentner ab Mitte 2014 hat sich das dahingehend ausgewirkt, dass ihre monatliche Rente im Durchschnitt von 628 Euro auf 672 Euro angestiegen ist. Aber nicht für die Alt-Fälle. Die Bestandsrenten blieben von den Neuregelungen unberührt, ihre Situation wird fortgeschrieben, bis mit Erreichen der Regelaltersgrenze die EM- in eine Altersrente transformiert wird. Ein Mechanismus, der auch bei den nun vorgesehenen Neuregelungen enthalten ist.

Mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Verbesserung der Leistungen bei Renten wegen verminderter Erwerbsfähigkeit und zur Änderung anderer Gesetze (EM-Leistungsverbesserungsgesetz) auf BT-Drs.18/11926 ist vorgesehen, die Zurechnungszeit für Rentenzugänge schrittweise auf das vollendete 65. Lebensjahr zu verlängern. Erwerbsgeminderte werden langfristig so gestellt, als ob sie - entsprechend der Bewertung ihrer Zurechnungszeit - drei Jahre länger als bisher gearbeitet hätten.

Nun soll die Zurechnungszeit zwischen 2018 und 2024 schrittweise auf 65 Jahre verlängert werden. Dadurch erhöht sich die monatliche Rente in der Endphase, also 2023, um etwa 50 Euro durchschnittlich. Wohlgemerkt - am Ende der Ausweitung der Zurechnungszeit. Damit nicht zu früh die Sektkorken bei den Betroffenen knallen: Die schrittweise Anhebung der Zurechnungszeit führt beispielsweise für alle Neufälle in 2018 zu einer um 4,50 Euro höheren Rente. Pro Monat versteht sich. Aber auch hier gilt: Nur für die Rentner, die ab 2018 in das System kommen. Die anderen bekommen noch nicht einmal diesen überschaubaren Betrag zusätzlich.

Der Gesetzentwurf sieht ferner keine Abschaffung der bestehenden Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten vor. Hierzu findet man im Entwurf die folgende Begründung:

„Die Abschläge bei Erwerbsminderungsrenten stellen sicher, dass Altersrenten und Erwerbsminderungsrenten hinsichtlich des vorzeitigen Rentenbezugs grundsätzlich gleich behandelt werden.“ (BT-Drs.18/11926: 1)

Diese Begründung ist hoch problematisch und auch fehlerhaft. Denn sie folgt der Logik, ungleiche Tatbestände gleich behandeln zu wollen. Das führt im Ergebnis zu einer massiven Benachteiligung der Erwerbsminderungsrentner. 

Die (lebenslang wirkenden) Abschläge betragen wie bei der vorzeitigen Inanspruchnahme von Altersrenten 0,3 Prozent pro Monat und sind auf maximal 10,8 Prozent begrenzt. So gut wie alle Erwerbsminderungsrentner sind davon betroffen – was angesichts eines durchschnittlichen Eintrittsalters in den EM-Rentenbezug von knapp über 50 Jahren auch nicht verwundert.

Von vielen wird die Übertragung der Abschlagslogik aus dem Bereich der „normalen“ Altersrenten auf die EM-Renten völlig zu Recht als nicht systemgerecht klassifiziert. Bei den Altersrenten wurden die Abschläge eingeführt, um die Rentenversicherung durch eine vorzeitige Inanspruchnahme von Altersrenten finanziell zu kompensieren und zugleich mit der Intention, darüber eine Steuerungswirkung beim Rentenzugang im Sinne einer Abschreckung zu entfalten, da der Preis für eine vorzeitige Inanspruchnahme der Rentenleistungen nach oben getrieben wird. Ganz offensichtlich spielt hier die grundsätzlich mögliche „Wahlfreiheit“ der betroffenen Versicherten eine entscheidende Rolle. 

Bei Erwerbsminderungsrentnern stellt sich aber die Situation völlig anders dar. Sie haben sich den Zustand der Erwerbsminderung nicht freiwillig ausgesucht, sondern sie ist gesundheitlich bedingt  – insofern kann und darf man ihre Situation nicht mit der „normaler“ Altersrentner vergleichen.
  • Das wäre nur dann anders, wenn man explizit oder implizit davon ausgeht, dass der Status einer Erwerbsminderung bewusst herbeigeführt wird, um in den „Genuss“ einer EM-Rente zu gelangen. Dagegen sprechen auch die Befunde aus dem Zugangsgeschehen. Von den knapp 356.000 neuen Anträgen auf eine gesetzliche Erwerbsminderungsrente (EM-Rente) im Jahr 2015 wurden 41 Prozent abgelehnt. Die Ablehnungsquote liegt seit Jahren konstant auf diesem Niveau. Seit langem wird das Begutachtungsverfahren kritisch diskutiert, die Probleme liegen eher darin, dass auch offensichtlich kranke und faktisch erwerbsgeminderte Betroffene über einen längeren Zeitraum darum kämpfen müssen, Zugang zu dem System zu bekommen. Aber offensichtlich geht man in der Bundesregierung von dem angesprochenen Szenario aus: So heißt es in der Begründung zum Gesetzesentwurf: Die Abschläge von bis zu 10,8 Prozent seien nötig. "Sie verhindern, dass die Erwerbsminderungsrente im Hinblick auf die Höhe der Abschläge als günstigere Alternative zu einer vorzeitigen Altersrente in Betracht kommt."
Dass die Abschläge bei den EM-Renten aus systematischer Sicht nicht gerechtfertigt werden können, entspringt auch dem Tatbestand, dass es bei den EM-Renten um die Absicherung des Invaliditätsrisikos geht und sich diese damit in einer anderen Konstellation bewegen als die „normalen“ Altersrenten. Dass man das trennen muss, zeigt sich auch daran, dass bei den Systemen, die zur Absenkung des Rentenniveaus benutzt wurden (also die geförderte private Alterssicherung – Riester-Rente) wie auch bei den gerade aktuell relevanten Betriebsrentensystemen eine Invaliditätsabsicherungskomponente nicht enthalten ist und ein Verweis auf eine private Absicherung dieses speziellen Risikos offensichtlich aus versicherungssystematischen Gründen für einen Großteil nicht leistbar wäre bzw. auch gar nicht angeboten wird. Insofern sind die Betroffenen existenziell auf die Leistungen aus dem System der Erwerbsminderungsrenten angewiesen.

Eine wichtige Argumentation für Abschläge in der Rentenversicherung stellt bekanntlich auf eine versicherungsmathematische Herleitung ab, denn die Betroffenen beziehen ja (theoretisch) länger die Leistung und haben (praktisch) weniger Beiträge eingezahlt in die Rentenkasse. Wenn es sich um „normale“ Altersrenten handelt und möglicherweise ein Entscheidungsspielraum vorhanden ist, wann man die Altersrente, also auch vorgezogen, in Anspruch nehmen kann, dann mag das schlüssig sein. Aber nicht bei korrekten EM-Renten. Man darf nicht so tun, als ob der Rentenbeginn wie bei vorgezogenen Altersrenten freiwillig erfolge. Wer wegen Krankheit oder Behinderung seine Arbeit nicht mehr ausüben kann, hat keinen Einfluss auf den Zeitpunkt des Rentenbeginns und darf deshalb nicht mit denselben Abschlägen belegt werden.

Aus systematischer Sicht – vor allem mit Blick auf die eigentlich relevante Sicherungsfunktionalität der Erwerbsminderungsrente, spricht also vieles für die im Antrag „Die Erwerbsminderungsrente stärken und den Zugang erleichtern“ auf BT-Drs. 18/12087 vom 25.04.2017 formulierte Forderung, einen Gesetzentwurf vorzulegen, „der die Abschläge bei Renten wegen Erwerbsminderung für gegenwärtige Empfängerinnen und Empfänger ebenso wie für Neuzugänge der Erwerbsminderungsrente zum 1. Januar 2018 abschafft (Zugangsfaktor nach § 77 Absatz 3 SGB VI).“

Der Sinkflug der durchschnittlichen Zahlbeträge bei neuen EM-Renten lässt sich auf ein Bündel unterschiedlicher Ursachen zurückführen. Die im Jahr 2001 eingeführten Abschläge liefern nur eine – wenn auch eine wichtige – Teilerklärung, zumal parallel zu den Abschlägen auch die Zurechnungszeit verlängert wurde, was partiell kompensierend gewirkt hat (und auch hinsichtlich der geplanten neuen Verlängerung so wirken wird).

Neben der Bedeutung der Abschläge muss ein Auge geworfen werden auf Strukturveränderungen im Rentenzugang bei den Erwerbsminderungsrenten: ein gestiegener Frauenanteil, stark rückläufige Beitragszeiten in Kombination mit einer im Durchschnitt gesunkenen Entgeltposition bei den Männern sowie insgesamt eine gestiegene Bedeutung von Zeiten der Arbeitslosigkeit, die vor allem bei Langzeitarbeitslosigkeit rentenrechtlich entwertet worden sind.
Das Risiko der Erwerbsminderung konzentriert sich zunehmend auf bestimmte Gruppen, die mit mehreren vorgängigen erwerbsbiografischen Risikomerkmalen in den Bezug gehen (müssen). Zeiten der Niedriglohnbeschäftigung sowie der Arbeitslosigkeit prägen die Erwerbsverläufe der Betroffenen in weit größerem Ausmaß als dies im Durchschnitt aller Versicherungsbiografien der Fall ist.

Vor diesem Hintergrund ist es nicht unplausibel, davon auszugehen, dass eine Reform des Leistungsrechts der Erwerbsminderungsrenten, die sich auf die Verlängerung der Zurechnungszeit beschränkt, am Ende zu kurz greifen wird bzw. muss.

Was könnte man tun? Man müsste bei den vorgelagerten Problemen in der Erwerbsbiografie der betroffenen Menschen ansetzen.

Zu empfehlen wäre, 
  • zum einen die Regelung zur sogenannten Rente nach Mindestentgeltpunkten, mit der geringe Pflichtbeiträge um 50 Prozent ihres Wertes auf maximal 75 Prozent des Durchschnittsentgelts aufgewertet werden, auf Zeiten der Niedriglohnbeschäftigung nach 1991 zu verlängern. 
  • Zum anderen müssten Zeiten der Arbeitslosigkeit (nach dem Ende des ALG-Bezugs gemäß SGB III) den Status bewerteter Anrechnungszeiten erhalten; dies führt im Rahmen der (begrenzten) Gesamtleistungsbewertung in der Regel ebenfalls zu höheren Rentenanwartschaften.
  • Die Abschaffung der Rentenabschläge von im Einzelfall 10,8 Prozent könnte einen nachhaltigen Beitrag zur Anhebung der Zahlbeträge leisten.