Donnerstag, 11. Mai 2017

Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) als "kleiner" Gesetzgeber im Gesundheitswesen. Sind seine Tage gezählt?

Der Gemein­same Bundes­aus­schuss (G-BA) ist das oberste Beschluss­g­re­mium der gemein­samen Selbst­ver­wal­tung der Ärzte, Zahn­ärzte, Psycho­the­ra­peuten, Kran­ken­häuser und Kran­ken­kassen in Deut­sch­land. Er bestimmt in Form von Richt­li­nien den Leis­tungs­ka­talog der gesetz­li­chen Kran­ken­ver­si­che­rung (GKV) für mehr als 70 Millionen Versi­cherte und legt damit fest, welche Leis­tungen der medi­zi­ni­schen Versor­gung von der GKV erstattet werden. Darüber hinaus besch­ließt der G-BA Maßnahmen der Quali­täts­si­che­rung für den ambu­lanten und statio­nären Bereich des Gesund­heits­we­sens. Diese Selbstbeschreibung des G-BA hört sich so an, wie man sie lesen muss - es handelt sich um ein wirklich einflussreiches Gremium. Das gibt es seit 2004, er ist ein Gremium der wichtigsten Akteure im Gesundheitswesen und eine Art Zulieferer für das Bundesgesundheitsministerium. Man könnte auch sagen, es ist die Spinne im Netz einer outgesourcten Gesundheitspolitik. Aus der Perspektive der Versorgung der Menschen kann man den Stellenwert dieses Gremiums gar nicht unterschätzen.

Wie alle Institutionen hat auch diese ihre eigene Geschichte. In den 1920er Jahren wurde das Prinzip der ärztlichen Selbstverwaltung geboren. Im Reichsausschuss Ärzte und Krankenkassen wurde bestimmt, welche Medikamente verordnungsfähig sind und welche nicht. In der Bundesrepublik wurden daraus die Bundesausschüsse, in denen Ärzte und Zahnärzte mit den Kassen verhandelten, die Psychotherapeuten und die Krankenhäuser, zusätzlich ein Koordinierungsausschuss, so Thomas Trappe in seinem Artikel Das kleine Gesundheitsministerium.

Aber was genau ist der G-BA?
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Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) ist eine juristische Person des öffentlichen Rechts und wird von den vier großen Spitzenorganisationen der Selbstverwaltung im deutschen Gesundheitswesen gebildet: der Kassenärztlichen und Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und dem GKV-Spitzenverband. Neben diesen vier Trägerorganisationen sind Patientenvertreterinnen und Patientenvertreter antrags- jedoch nicht stimmberechtigt an allen Beratungen beteiligt. Der G-BA wurde am 1. Januar 2004 durch das Gesundheitsmodernisierungsgesetz errichtet und übernahm die Aufgaben seiner Vorgängerorganisationen.« So die Selbstdarstellung des G-BA.

Die Mitglieder des G-BA diskutieren und Beschließen im Haupt- und in neun Unterausschüssen Richtlinien, die dann dem Gesundheitsministerium weitergeleitet werden. Dieses prüft auf rechtliche Richtigkeit, nicht aber auf inhaltliche. »Mit der Selbstverwaltung hat der Bundestag die Gestaltung der Gesundheitspolitik ausgegliedert: Behandlungsrichtlinien, Therapien und Medikamentenversorgung, Qualitätssicherung – all das obliegt dem G-BA. Der Gesetzgeber gibt nur den Rahmen vor und liefert Arbeitsaufträge. Eine Konstruktion, die parteiübergreifend gelobt wird«, so Trappe in seinem Artikel. Theoretisch ist der G-BA ein Lehrbuchbeispiel für eine Einrichtung der Selbstverwaltung des Gesundheitssystems, die dem Ministerium und der Politik eine Menge Entlastung verschafft. Der Gesetzgeber kann sich auf die wesentlichen Dinge fokussieren, die Umsetzung erfolgt dann im Ausschuss.

Man kann sich vorstellen, dass ein derart wichtiges Gremium trotz aller theoretischen Vorteile nicht unkritisch gesehen wird. Gemeinsamer Bundesausschuss: Wer kontrolliert den kleinen Gesetzgeber?, so einer der Fragen als Artikelüberschrift bei Heike Korzilius bereits 2013. Darin findet man diesen interessanten Passus:

„Der G-BA gilt vielen als das Zentralkomitee des Gesundheitswesens“, lautete die provokante These des Sozialrechtlers Prof. Dr. iur. Peter Axer von der Universität Heidelberg. Zumal der Gesetzgeber das Gremium im Laufe der Zeit mit immer mehr Befugnissen ausgestattet habe. Zwar wagte Axer keine Prognose darüber, ob der G-BA auf Dauer ein Organ der Selbstverwaltung bleiben oder sich in eine Bundesoberbehörde verwandeln wird. Er stellte aber klar, dass das Bundessozialgericht in mehreren Urteilen die Auffassung vertreten habe, dass die Normsetzungsbefugnisse des G-BA mit demokratischen Prinzipien vereinbar seien: „Der G-BA steht aufgrund der Rechtsprechung auf sicheren Füßen.“ Würde das verneint, hätte das nach Ansicht von Axer Folgen für weitere Teile der Sozialversicherung.

Im November 2015 veröffentlichte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) einen bemerkenswerten Beschluss, der das Potential hat, das Machtzentrum des Gesundheitswesens in Frage zu stellen. Die Pressemitteilung vom 20.11.2015 zu BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 10. November 2015 - 1 BvR 2056/12 ist scheinbar unverfänglich so überschrieben: Unzulässige Verfassungsbeschwerde gegen Versagung von Therapiekosten und Regelungsbefugnisse des Gemeinsamen Bundesausschusses. Mit der Entscheidung wurde eine Verfassungsbeschwerde gegen ein Urteil des Bundessozialgerichts zur Versagung von Therapiekosten durch die gesetzliche Krankenversicherung und gegen die normativen Zuständigkeiten des Gemeinsamen Bundesausschusses als unzulässig verworfen. Wenn auch das eigentliche Anliegen des Klägers verworfen wurde, so sollte man diesen Passus des BVerfG genau lesen:

»Mit dem Vorbringen ‑ durchaus gewichtiger ‑ genereller und allgemeiner Zweifel an der demokratischen Legitimation des Gemeinsamen Bundesausschusses als Institution kann das nicht gelingen. Vielmehr bedarf es konkreter Ausführungen nicht nur zum Einzelfall, sondern auch zur Ausgestaltung der in Rede stehenden Befugnis, zum Gehalt der Richtlinie und zur Reichweite der Regelung. Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass der Gemeinsame Bundesausschuss für eine Richtlinie hinreichende Legitimation besitzt, wenn sie zum Beispiel nur an der Regelsetzung Beteiligte mit geringer Intensität trifft, während sie für eine andere seiner Normen fehlen kann, wenn sie zum Beispiel mit hoher Intensität Angelegenheiten Dritter regelt, die an deren Entstehung nicht mitwirken konnten. Maßgeblich ist hierfür insbesondere, inwieweit der Ausschuss für seine zu treffenden Entscheidungen gesetzlich angeleitet ist.«

Offensichtlich sehen die Richter eine Unterscheidungslinie zwischen "geringer" und "hoher Intensität", mit der die Betroffenen konfrontiert sind bzw. sein können und das in Verbindung mit diesem Aspekt: Das BVerfG zweifelt offenbar daran, ob der G-BA auch ausreichend demokratisch legitimiert ist, wenn es sich um Angelegenheiten handelt, die mit »hoher Intensität" eingestuft werden. Der Beschluss lässt sich so lesen, dass das Gericht nur auf einen passenderen Fall wartet, um sich mit dieser Frage auseinanderzusetzen.

Die Arbeit des G-BA wirkt sich direkt im Behandlungsgeschehen aus. Patienten sollen nur solche Behandlungen bekommen, die vom Ausschuss zugelassen werden.

Das BVerfG »zweifelt offenbar daran, ob der G-BA hierfür auch ausreichend demokratisch legitimiert ist. So fragt es, ob dann, wenn schon nicht Patient und Arzt über die Behandlung (die freilich die Kasse bezahlen muss) entscheiden können, ein solcher Leistungskatalog nicht vom demokratisch gewählten Gesetzgeber erlassen oder nicht wenigstens vor diesem verantwortet werden müsste.« So liest das Astrid Wallrabenstein, die das in ihrem Artikel Die Macht­zen­trale auf der Kippe aufgegriffen hat.

Nun weist Wallrabenstein darauf hin, dass der »Vorwurf, der G-BA sei nicht hinreichend demokratisch legitimiert, keineswegs neu (ist). Denn er wurde bereits um die Jahrtausendwende vorgebracht, allerdings damals nicht von Patienten, sondern von den Arzneimittelherstellern. Sie wehrten sich dagegen, dass der Vorläufer des G-BA, in dem ebenso wie heute Kassen und Ärzte saßen, die Preise für Arzneimittel festsetzten. Das Argument mangelnder demokratischer Legitimation war dabei durchaus doppeldeutig.« Allerdings scheiterten die Arzneimittelhersteller vor den Gerichten mit ihrer Forderung, an der Beschlussfassung beteiligt zu werden.

Vor diesem Hintergrund ging man bislang davon aus, dass die Frage der "demokratischen Legitimation" erledigt sei. »Dass gewissermaßen in einer zweiten Welle Patienten und ihre Rechtsvertreter das Argument aufnahmen und bis zum Bundesverfassungsgericht trugen, wurde eher belächelt. Deshalb war die Überraschung im November 2015 groß.«

Was könnte kommen? Wallrabenstein diskutiert in ihrem Artikel unterschiedliche Optionen, die Macht des G-BA einzuhegen:
  • Verstärkung der Verantwortlichkeit des G-BA gegenüber politischen Institutionen, konkret gegenüber dem Bundestag und dem Bundesgesundheitsministerium. Bereits heute werden drei unabhängige Vertreter, darunter der einflussreiche Vorsitzende des G-BA, vom Ministerium ernannt.
  • Diskutiert werden zudem stärkere Kontrollrechte oder auch eine Art Allgemeinverbindlicherklärung von Ausschussrichtlinien durch das Gesundheitsministerium. Im Ergebnis laufen diese Vorschläge aber auf mehr Einflussnahme des Ministeriums und  nicht der Patienten hinaus.
  • Eine stärkere Beteiligung von Patientenvertretern im G-BA – dort nehmen Patientenvertreter bisher zwar an Beratungen teil, sind aber nicht stimmberechtigt – wäre aber ebenfalls nicht unbedingt ein Gewinn an Demokratie. Da sich Patientengruppierungen zumindest bisher oft nur zu bestimmten Krankheiten bilden, würde ein Mitbestimmungsrecht auch nur die Interessen entsprechend Erkrankter stärken. Andere Patientenbelange ohne entsprechende Lobby könnten dann sogar stärker als derzeit unter die Räder geraten.
Man erkennt schon, dass in allen drei Ansätzen nur eine bestimmte Seite gestärkt werden würde.

Wallrabenstein stellt am Ende ihres Beitrags einen anderen Ansatz zumindest in groben Umrissen in den Raum: Bei unzweifelhaft erforderlichen Regeln und damit einhergehenden Begrenzungen für das Behandlungsgeschehen, stellt sich aus Sicht der Betroffenen die Frage, ob und wie sie auf den Prüfstand gestellt und – wenn sie veraltet, ungerecht oder sonst aus irgendwelchen Gründen falsch sein sollten – korrigiert werden können. »Bisher sind sie nur im konkreten Leistungsfall überprüfbar, aber Kranke haben dafür nicht immer die Kraft oder Zeit. In anderen Rechtsgebieten würde man von Verbraucherschutz sprechen, über Verbandsklagen nachdenken.«

Fazit: Die Tage des Gemeinsamen Bundesausschusses sind mitnichten gezählt, aber die Legitimationsfrage dieses den Staat und das komplexe Gesundheitssystem entlastenden Gremiums wird erneut und nunmehr durch das BVerfG als "Drohung" aufgerufen, so dass man sich Gedanken machen sollte, wie man eine Weiterentwicklung hinbekommt. Um das an dieser Stelle nochmals hervorzuheben - die Entscheidungen des G-BA sind nicht irgendwelchen abstrakten Themenstellungen gewidmet, sondern sie eröffnen oder blockieren Zugangswege für gesetzlich Krankenversicherte zu Diagnostik und Therapie. Insofern betreffen sie Millionen Menschen. Den G-BA nicht abschaffen, sich aber sehr wohl Gedanken machen, wie die vielen betroffenen Menschen im Sinne eines modernen Verbraucherschutzes als ein sozialpolitisches Kernanliegen par excellence die Möglichkeit bekommen können, die Entscheidungen überhaupt und jenseits des Einzelfalls wie heute auf den Prüfstand zu stellen, das schient das Mindestgebot der Stunde zu sein.