Samstag, 1. Oktober 2016

Von der Definition gesellschaftlichen "Abschaums" bis hin zur Türöffnung für einen staatlichen Zugriff auf Verhalten und Körper

Es gibt Meldungen, bei denen man angesichts der sich dahinter öffnenden gesellschaftspolitischen Untiefen fassungslos verweilt. Es sind zumeist Nachrichten, die aufgrund ihrer lokalen Begrenztheit und des punktuellen Charakters nur von wenigen aufgegriffen und thematisiert werden und die doch zugleich als Vorboten einer möglicherweise kommenden Entwicklung zu verstehen sind, wenn man einen Moment über den Kontext der Meldung hinaus denkt.

Ein Beispiel wäre dieser Artikel Muss man schlechte Eltern zum Verhüten zwingen? Darin berichtet Sarah Maria Brech: »Mit einer heiklen Idee will die Stadt Rotterdam Kindesmisshandlung vorbeugen: Verantwortungslose Frauen sollen zum Gebrauch von Verhütungsmitteln gezwungen werden können.«

Es ist ein Beispiel für übergriffige Hybris staatlicher Organe:

»Darf ein Staat Menschen dazu zwingen, eine Schwangerschaft zu verhüten? Die Stadt Rotterdam unternimmt jetzt einen entsprechenden Vorstoß. In einem Brief an den Gemeinderat schlägt der für Jugend zuständige Christdemokrat Hugo de Jonge zusammen mit Kollegen ein neues Gesetz vor.
Demnach könnte ein Gericht in Zukunft beschließen, dass potenzielle Eltern zwangsweise verhüten müssen – wenn sie sich als besonders verantwortungslos erwiesen haben. In Rotterdam könnten pro Jahr zehn bis 20 Frauen betroffen sein, etwa Drogenabhängige oder Obdachlose. Ihnen würde dann zum Beispiel ein Verhütungsstäbchen oder eine Spirale eingesetzt.«

Der Vorstoß des "Christdemokraten" dockt an eine gesellschaftspolitisch hoch sensible Problematik an, um daraus Legitimation für die Übergriffigkeit abzuleiten: die Kindesmisshandlungen. Die Maßnahme solle diese verhindern. Manche Kinder würden in Familien geboren, bei denen jeder in der Umgebung „Bauchschmerzen bekäme“, argumentierte de Jonge. „Sicher und gesund aufzuwachsen ist genau so ein Recht wie Kinder zu bekommen.“

Nun könnte man argumentieren, dass es heute schon ein staatliches Wächteramt und darüber hinausreichende Verpflichtungen gibt, genau das auch sicherzustellen. Sich einzumischen, Hilfe anzubieten - und wo es sein muss, auch zu intervenieren, wenn das Kindeswohl gefährdet ist.
Aber die innere Logik des Vorstoßes in Rotterdam ist eine andere - hier geht es um die Verhinderung der Entstehung einer solchen Situation, in dem man die Eltern selektiert und einem Teil von ihnen verbietet, sich fortzupflanzen. Und dass das nicht "die" Eltern betrifft, sondern die Maßnahme ausschließlich auf Frauen bzw. potenzielle Mütter bezogen ist, sei hier nur erwähnt.

Nun sollte man glauben, dass nicht nur, weil für sich schon skandalös genug, sondern auch im Lichte der Horrorerfahrungen, die wir mit der Definition und der daraus abgeleiteten Selektion "lebensunwerten Lebens" gemacht haben, eine Welle der Entrüstung und eine massive Ablehnung des skizzierten Vorschlags zu beobachten sein wird.
Grundsätzlich steht auch (noch) die Front der Ablehnung: »Mehrmals schon wurde die Idee der zwangsweisen Schwangerschaftsverhütung in den Niederlanden diskutiert und jedes Mal abgeschmettert – meist mit Verweis auf die Zwangssterilisierungen durch die Nationalsozialisten. Auch diesmal lehnen die meisten Parteien den Vorschlag rundheraus ab.«

Allerdings berichtet Sarah Maria Brech auch:

»Einige Experten unterstützen die Idee. So berichtete etwa Gynäkologe Tom Schneider ... von seinen Erfahrungen aus dem Rotterdamer Erasmus-Krankenhaus. Dort traf er drogenabhängige Prostituierte, die ständig schwanger sind, weil es Freier gibt, die dann mehr Geld bezahlen.
Ein Richter erzählte von einer geistig behinderten Frau, die 14 Kinder bekommen habe, von denen nur eins bei ihr aufwuchs. Im armen Rotterdam sehen Sozialarbeiter besonders viele Fälle von Kindesmisshandlung und Vernachlässigung.«

Und während wie erwähnt die meisten Politiker und Parteien noch abweisend reagieren, muss man auch das hier zur Kenntnis nehmen:
»Nur die Sozialdemokraten unterstützen de Jonges Plan. Wenn alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft seien, könne man in Ausnahmefällen diese Maßnahme ergreifen, um besonders schlimme Situationen zu verhindern, sagte die Abgeordnete Agnes Wolbert.
Rotterdam startet erst einmal ein Projekt, mit dem Frauen in schwierigen Lebensphasen davon überzeugt werden sollen, nicht schwanger zu werden.«

Man kann nur hoffen, dass in diesem Fall ein Modellprojekt, das von außen betrachtet typisch sozialarbeiterisch daherkommt, nicht im Ergebnis einen gesellschaftspolitisch katastrophalen Geist aus der Flasche zu befördern hilft.

„Die Behörden können nicht entscheiden, wer Kinder bekommt oder nicht. Das ist eine Grenze, die wir nicht überschreiten dürfen“. (Mark Rutte, niederländischer Ministerpräsident).

Es bleibt zu hoffen, dass diese Grenze nicht weiter unterspült und untergraben wird und das sie stark genug befestigt ist.