Dienstag, 2. August 2016

Sie lassen nicht locker: Sozialrichter aus Gotha legen dem Bundesverfassungsgericht erneut die Sanktionen im SGB II vor. Und die aus Leipzig mögen keine unpassenden SGB III-Maßnahmen

Es ist noch gar nicht so lange her, da wurde hier berichtet, dass das Bundesverfassungsgericht eine Richtervorlage des Sozialgerichts Gotha hinsichtlich einer (möglichen) Verfassungswidrigkeit der Sanktionen im Hartz IV-System nicht zur weiteren Verhandlung angenommen hat. Vgl. dazu den Beitrag Das Bundesverfassungsgericht will (noch?) nicht: Keine Entscheidung über die Frage der Verfassungswidrigkeit von Sanktionen im Hartz IV-System vom 2. Juni 2016. Eine Kürzung des Arbeitslosengeldes II bei Pflichtverstößen des Empfängers ist nach Ansicht des Sozialgerichts Gotha verfassungswidrig - weil sie die Menschenwürde des Betroffenen antasten sowie Leib und Leben gefährden kann. Die 15. Kammer des Gerichts ist der Auffassung, dass die im Sozialgesetzbuch (SGB) II festgeschriebenen Sanktionsmöglichkeiten der Jobcenter gegen mehrere Artikel des Grundgesetzes verstoßen. Das wollte man vom BVerfG prüfen lassen - und die Verfassungsrichter haben ihre Arbeitsverweigerung begründet mit verfahrensrechtlichen Fehlern in dem Vorlagebeschluss, denn der würde nur teilweise den Begründungsanforderungen entsprechen. Zugleich gab es inhaltlich einen interessanten Hinweis seitens der Verfassungsrichter: Der Vorlagebeschluss aus Gotha "wirft ... durchaus gewichtige verfassungsrechtliche Fragen auf", heißt es in der Pressemitteilung Unzulässige Richtervorlage zur Verfassungswidrigkeit von Arbeitslosengeld II-Sanktionen vom 2. Juni 2016.

Die Enttäuschung bei den vielen Beobachtern, die sich verfassungsrechtliche Positionierung gegen die Sanktionen im Hartz IV-System erhofft hatten, war groß. Aber die Sozialrichter aus Gotha lassen offensichtlich nicht locker. Denn sie haben es wieder getan.

Das Sozialgericht Gotha hält Hartz-IV-Sanktionen weiterhin für verfassungswidrig. Darum wird es erneut das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) anrufen. Dies habe eine Verhandlung am Dienstag ergeben, so wird ein Behördensprecher in dem Artikel Sanktionen gefährden Leben von Susan Bonath zitiert.

In den nächsten Tagen werde die Kammer eine zweite Richtervorlage in Karlsruhe einreichen. Die erste Eingabe vom Mai 2015, hatte das BVerfG Anfang Juni wegen eines Formfehlers ab- und an die Thüringer Sozialrichter zurückgewiesen. Es geht auch bei der zweiten Vorlage um den gleichen Fall:

»Geklagt hatte ein Mann, den das Jobcenter Erfurt im Jahr 2014 zweimal für jeweils drei Monate sanktioniert hatte. Nachdem er ein Arbeitsgebot abgelehnt hatte, kürzte ihm das Amt die Grundsicherung um 30 Prozent. So musste er mit 273,70 statt damals 391 Euro über die Runden kommen. Daraufhin hatte das Jobcenter ihn zu einem Praktikum verpflichtet. Auch dem hatte der Kläger nicht zugestimmt. Die Folge war eine weitere Kürzung seiner Bezüge um 234,60 Euro, also 60 Prozent. Es blieben ihm dadurch gerade noch 156,40 Euro zum Überleben. Bei der Klage hatte der Mann beteuert zu wissen, worauf er sich eingelassen habe. Die Sanktionen halte er allerdings für verfassungswidrig.«

Mit der inhaltlichen Frage einer möglichen Verfassungswidrigkeit hat sich das BVerfG wie bereits erwähnt gar nicht weiter auseinandergesetzt, sondern einen Formfehler herangezogen, um das Verfahren wieder zurückzugeben. Dazu der BVerfG in seiner Pressemitteilung vom 02.06.2016:

»Es fehlt ... an einer hinreichenden Begründung, warum die Verfassungswidrigkeit der §§ 31 ff. SGB II im Ausgangsverfahren entscheidungserheblich sein soll. Dem Vorlagebeschluss ist nicht hinreichend nachvollziehbar zu entnehmen, ob der Kläger des Ausgangsverfahrens vom Jobcenter vor Erlass der Sanktionsbescheide nach § 31 Abs. 1 Satz 1 SGB II den gesetzlichen Anforderungen entsprechend über die Rechtsfolgen einer Pflichtverletzung belehrt wurde, obwohl Ausführungen hierzu geboten sind. Fehlte es bereits an dieser Tatbestandsvoraussetzung für eine Sanktion, wären die angegriffenen Bescheide rechtswidrig und es käme auf die Verfassungsgemäßheit der ihnen zugrunde liegenden Normen nicht mehr an.«

Nun also schickt man den Fall erneut nach Karlsruhe. Um zu vermeiden, dass das hohe Gericht erneut den Fall abweist, »habe das Sozialgericht Gotha einerseits klargestellt, dass die Rechtsfolgenbelehrung des Klienten den gesetzlichen Vorgaben entsprach, so der Sprecher. »Zum anderen konnte der Kläger ausführlich darlegen, dass ihm die Folgen bewusst waren.« ... Zudem hatte er sich geweigert, eine Eingliederungsvereinbarung zu unterzeichnen. Eine solche enthält sanktionsbewährte Auflagen wie Ortsanwesenheit, beständige Bewerbungsbemühungen und die Annahme zugewiesener Jobs«, so Susan Bonath in ihrem Artikel.

Man darf gespannt sein, wie das BVerfG mit dem Sanktionsthema umgehen wird. Viele Betroffene hoffen natürlich, dass Sanktionen im SGB II für verfassungswidrig erklärt werden und auch im politischen Anti-Hartz IV-Raum gibt es entsprechende Erwartungen. Die verfassungsrechtliche Fragwürdigkeit der Sanktionierung des Existenzminimums wird zudem von einigen Juristen hervorgehoben - aber, das gehört auch zur Wahrheit, eine grundsätzliche Ablehnung von Sanktionierung ist keinesfalls die Mehrheitsmeinung, unter den Juristen gibt es Vertreter, die eine Verfassungswidrigkeit nicht erkennen können (vgl. dazu bereits die Darstellung in meinem Blog-Beitrag Hartz IV: Sind 40% von 100% trotzdem noch eigentlich 100% eines "menschenwürdigen Existenzminimums"? Ob die Sanktionen im SGB II gegen die Verfassung verstoßen, muss nun ganz oben entschieden werden vom 27.05.2016).

Auch eine Sanktionen stützende Rechtsprechung ist vorhanden, als aktuelles Beispiel sei auf diese Entscheidung des Sozialgerichts Leipzig (das gleich noch eine andere Rolle spielen wird) hingewiesen: "Hartz IV"-Sanktion wegen Ablehnung von Sonntagsarbeit rechtmäßig, so ist eine Pressemitteilung des Gerichts vom 20.06.2016 überschrieben: »Das Sozialgericht Leipzig hat mit Urteil vom 24. März 2016 (S 17 AS 4244/12) entschieden, das eine Kürzung von Leistungen nach dem Sozialgesetzbuch Zweites Buch ("Hartz IV") rechtmäßig ist, wenn ein Arbeitsplatz abgelehnt wurde, bei dem für die Dauer der siebeneinhalbmonatigen Befristung eine Tätigkeit u.a. an fast jedem Sonntag vorgesehen war.«

Auf der anderen Seite findet man Entscheidungen, in diesem Fall vom Bundessozialgericht (Keine Vereinbarung von Bewerbungsbemühungen ohne Vereinbarung zur Bewerbungskostenübernahme!), die Sanktionen zurückweisen. Hartz-IV-Vollsanktionen unverhältnismäßig, so ist ein Artikel zur BSG-Entscheidung überschrieben. »Zwischen Dezember 2011 und November 2012 hatte es gegen den Mann drei 100-Prozent-Sanktionen für jeweils drei Monate verhängt. Nach Ansicht des Amtes hatte er sich unzureichend um Arbeit beworben. Das Bundessozialgericht (BSG) erklärte die Strafen jedoch Ende vergangener Woche in letzter Instanz für rechtswidrig, wie es in einer Mitteilung informiert. Bereits die zugrunde liegende Eingliederungsvereinbarung (EGV) sei »einseitig fordernd« und damit unverhältnismäßig und nichtig, so das BSG. Jobcenter dürften Klienten nämlich zu nichts verpflichten, ohne anfallende Kosten zu übernehmen.«

Allerdings hat das Bundessozialgericht auch in die andere Richtung entschieden, also für die Zulässigkeit von Sanktionen. Dazu beispielsweise aus diesem Jahr und thematisch nah dran an der strittigen Frage nach der Verfassungswidrigkeit der Sanktionen an sich: Aufrechnung in Höhe von 30% mit der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums vereinbar! vom 9.03.2016. Da hatte sich das BSG weit aus dem Fenster gelehnt: »Die gesetzliche Ermächtigung zur Aufrechnung in Höhe von 30% des Regelbedarfs über bis zu drei Jahre ist mit der Verfassung vereinbar«, so das BSG.

Wie dem auch sei, man muss den Sozialrichtern aus Gotha dankbar sein, dass sie da nicht locker lassen und man wünscht sich, bei den Beratungen des BVerfG Mäuschen spielen zu können, wie die mit diesem wahrhaft heißen Eisen umgehen werden.

Und wenn wir es schon mit den Sozialgerichten haben, dann darf diese Nachricht nicht fehlen: Leipziger Gericht: Arbeitslose müssen unpassende Kurse nicht akzeptieren: »Dieses Urteil lässt Arbeitsagenturen und Arbeitslose in ganz Deutschland aufhorchen: Eine 61-jährige Ingenieurin hat sich gegen eine sogenannte Aktivierungsmaßnahme der Agentur für Arbeit zur Wehr gesetzt. Ihr Anwalt sieht das Urteil des Sozialgerichtes als wegweisend an.« Was ist passiert?

»Eine 61-jährige gekündigte Buchhalterin aus Schkeuditz, die sich gegen eine für sie sinnlose Maßnahme der Agentur gewehrt hat, gewann jetzt ihren Prozess am Leipziger Sozialgericht. Es hielt die Bildungs-Module für die Diplom-Wirtschaftsingenieurin für nicht zumutbar. Das Urteil ist bereits rechtskräftig ... die Schkeuditzerin sollte an neue Tätigkeiten in den Sparten Holztechnik, Pflegehilfe, Metall, Farbe, Lager oder Garten- und Landschaftsbau herangeführt werden. Die Ingenieurin, die seit 2005 bis zu ihrer betriebsbedingten Kündigung Ende 2014 als Buchhalterin tätig war, empfand die Option einer „künftigen Vogelhäuschen-Erbauerin“ oder Pflegehilfskraft als „reine Schikane“. Sie kam der Verpflichtung zur Kurs-Teilnahme nicht nach. Ihre Widersprüche wies die Behörde zurück. „Hätte ich mich nicht gewehrt und vor Gericht geklagt, wäre mir das Arbeitslosengeld I gesperrt worden“, ist Monika K. überzeugt. Sie möchte andere Betroffene ermutigen, sich keine unpassenden Maßnahmen aufzwingen zu lassen.«

Die Entscheidung des SG Leipzig (S 1 AL 251/15) - die sich auf den SGB III-Bereich, also nicht auf das Hartz IV-System bezieht, was bei der Bewertung beachtet werden sollte - kann durchaus als wegweisend eingeordnet werden. Der die Klägerin vertretende Rechtsanwalt Sebastian E. Obermaier wird in diesem Zusammenhang mit diesen Worten zitiert:

„Damit wird der Auffassung der Bundesagentur für Arbeit, dass gegen Zuweisungen in Maßnahmen kein Rechtsschutz gegeben ist, eine klare Absage erteilt“.

Das Leipziger Sozialgericht habe erstmals in Deutschland entschieden, dass Betroffene nicht erst gegen Leistungssperren, sondern primär auch gegen Sinnlos-Maßnahmen Rechtsschutz erhalten können. Vielmehr müssten die Kurse zum Profil des Betroffenen passen. Die Richter bezeichneten die Zuweisung im Fall von Monika K., die noch bis März 2017 Arbeitslosengeld I beziehen wird, als „rechtswidrig“.

Nun steht die Frage im Raum, ob das auch für den SGB II-Bereich gilt, denn die meisten "Aktivierungsmaßnahmen" finden hier statt und die Jobcenter greifen in diesem Kontext auch zur Sanktionierung derjenigen, die sich aus ihrer Sicht sinnlosen oder gar kontraproduktiven Maßnahmen verweigern. Man darf auch hier gespannt sein.