Dienstag, 12. Juli 2016

Eine "integrierte Krankenversicherung" als Zwischenschritt auf dem Weg zur Bürgerversicherung? Jenseits der alten Welt von privat oder gesetzlich. Am Beispiel der Selbständigen gerechnet

Bei den gesetzlichen Krankenkassen haben sich Beitragsrückstände von 4,48 Milliarden Euro angehäuft. Seit vor knapp zehn Jahren die Versicherungspflicht in Kraft getreten ist, müssen die Kassen auch Versicherte halten, die nicht zahlen. Das berichten Jan Drebes und Eva Quadbeck in ihrem Artikel Immer mehr säumige Kassenpatienten. In den vergangenen Jahren ist das Volumen der Beitragsschulden in der GKV kontinuierlich angestiegen: »2011 lagen die Beitragsschulden noch bei gut einer Milliarde Euro, 2014 waren es 2,77 Milliarden und 2015 dann 3,24 Milliarden Euro.« Aktuell sind es schon die genannten 4,48 Milliarden Euro. 2013 wurden ausstehende Beiträge für bestimmte Pflichtversicherte durch ein Gesetz erlassen, ansonsten wären die Beitragsschulden für die Kassen heute noch höher.

Aber wer hat diese Rückstände produziert? Den Krankenkassen etwas schuldig bleiben können nur die sogenannten Selbstzahler, die nicht fest angestellt sind. Und da tauchen sie auf, die Selbständigen bzw. korrekter: ein Teil der Selbständigen: »So sind es häufig Solo-Selbstständige mit kleinen Einkommen oder Personen, die durchs soziale Netz gefallen und auch nicht über Hartz-IV-Bezug versichert sind, die den Kassen die Beiträge schuldig bleiben.« Von den Krankenkassen wurde darauf hingewiesen, dass nicht nur die Schulden der bisherigen Nichtzahler steigen, sondern dass auch die Zahl der Versicherten mit Beitragsschulden. zunimmt.

Was man dem Sachverhalt auf alle Fälle entnehmen kann: Es gibt offensichtlich ein Teil der Selbständigen, denen es nicht gelingt, die Beiträge in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) zu stemmen. Und wir haben an dieser Stelle noch gar nicht von denen gesprochen, die in der Privaten Krankenversicherung (PKV) abgesichert sind bzw. sein sollen, dort aber auch Probleme mit den Beiträgen haben, die sie nicht (mehr) zahlen können.

Nicht nur vor diesem Hintergrund geht es immer wieder um die Frage, ob und wie man die Selbständigen in der Gesetzlichen Krankenversicherung absichern kann, ohne dass das ein Teil der Betroffenen aufgrund der derzeitigen Ausgestaltung der Beitragsbemessung in die Knie zwingt (vgl. dazu bereits Anfang des Jahres Dietmar Haun und Klaus Jacobs: Die Krankenversicherung von Selbstständigen: Reformbedarf unübersehbar, in GGW, Heft 1/2016). Mit dieser Aufgabenstellung befasst sich auch die Bertelsmann-Stiftung, die unter Leitung von Stefan Etgeton das Projekt Integrierte Krankenversicherung bearbeitet. Dabei geht es um die Überwindung des dualen Krankenversicherungssystems in Deutschland mit seinem entweder gesetzlich oder privat.

Die Bertelsmann Stiftung und der Verbraucherzentrale Bundesverband haben bereits im Jahr 2013 einen Zehn-Punkte-Plan vorgelegt, der beschreibt, wie beide Versicherungssysteme, also GKV und PKV,  schrittweise auf eine integrierte Krankenversicherung vorbereitet werden können. Der Plan umfasst neben anderen Punkten die Einführung der Versicherungspflicht für Selbstständige und Beamte unter der Voraussetzung, dass sich diese Personengruppen in tragfähiger Weise in der GKV versichern können (durch Absenkung oder Aufhebung der Mindestbeiträge für Selbstständige und Schaffung eines beihilfefähigen Beamtentarifs).

In diesem Zusammenhang hat die Stiftung nun die Ergebnisse eines Gutachtens des IGES-Instituts veröffentlicht: Krankenversicherungspflicht für Beamte und Selbstständige. Teilbericht Selbstständige, so ist das überschrieben. Eine wesentliche Erkenntnis aus dem Gutachten: »Eine Ausweitung der Versicherungspflicht auf hauptberuflich Selbstständige entlastet Geringverdiener. Für die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) bringt sie keine wesentlichen Mehrbelastungen mit sich.«

Um das einordnen zu können, sind einige Vorbemerkungen erforderlich.

Schon heute ist eine Mehrheit der Selbstständigen in Deutschland gesetzlich versichert (57%). Allerdings: Während 34 Prozent der privat versicherten Selbstständigen im Jahr 2014 ein Einkommen aus Erwerbstätigkeit (äquivalent zum Jahresarbeitsentgelt) aufwiesen, das oberhalb der Versicherungspflichtgrenze (derzeit 4.687,50 Euro/Monat) lag, traf dies nur auf 16 Prozent der gesetzlich versicherten Selbstständigen zu.

Für die "normalen" Arbeitnehmer ist die Beitragsbemessung relativ simpel: Ihnen wird ein prozentualer Anteil des versicherungspflichtigen Arbeitseinkommens abgezogen und das auch nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze (4.237,50 Euro/Monat), jeder Euro darüber wird nicht verbeitragt.  Der Höchstbeitrag zur GKV liegt somit derzeit bei 665 Euro pro Monat (= 14,6 Prozent Arbeitnehmer- und Arbeitsgeberbeitrag plus 1,1 Prozent Zusatzbeitrag).

Bei den Selbständigen sieht das anders aus: Hauptberuflich Selbstständige, die sich gesetzlich versichern, zahlen grundsätzlich den Höchstbeitrag von 665 Euro. Um ihren Beitrag zu senken, müssen sie den Nachweis erbringen, dass ihre Einnahmen unterhalb der Beitragsbemessungsgrenze (4.237,50 Euro/Monat) liegen. Allerdings gibt es nach unten eine Grenze in Form eines Mindestbeitragssatzes, der sich ergibt als prozentualer Anteil von der derzeitigen Mindestbemessungsgrenze in Höhe von 2.178,75 Euro pro Monat. Daraus resultiert im Durchschnitt ein Mindestbeitrag von 342 Euro im Monat - auch wenn die tatsächlichen Einnahmen unter der Einkommensannahme des Mindestbeitragssatzes liegen.

Für die betroffenen Selbständigen hat das enorme Folgen. Nach der IGES-Studie zahlen Selbstständige aus dem untersten Einkommensfünftel fast 53 Prozent ihres Einkommens für ihre PKV-Police, bei GKV-versicherten Selbstständigen sind es 44 Prozent.

Von welchen Annahmen geht nun die IGES-Studie aus? Dazu kann man der Meldung Krankenversicherungspflicht für Selbstständige entlastet Geringverdiener entnehmen: Die Anwendung der für Arbeitnehmer geltenden Versicherungspflichtgrenze auch bei den Selbständigen würde dazu führen, dass fast eine Million der derzeit privat versicherten Selbstständigen in der GKV pflichtversichert würden. Zusätzlich würden schätzungsweise knapp 80.000 Selbstständige freiwillig in die GKV wechseln, weil sie dadurch ihre Beitragsbelastungen senken könnten. So würden insgesamt gut eine Million Selbstständige mit ihren rund 318.000 Familienangehörigen neu in die GKV aufgenommen. Der Anteil der gesetzlich versicherten Selbstständigen würde von derzeit 57 auf insgesamt 88 Prozent steigen. Die durchschnittlichen beitragspflichtigen Einnahmen dieser Selbstständigen sind knapp 50 Prozent höher als die durchschnittlichen Einkommen der derzeitigen GKV-Mitglieder.

Die zentralen Ergebnisse des IGES-Gutachtens lassen sich so zusammenfassen:
  • Die Studie errechnet, dass die einkommensbezogen erhobenen GKV-Beitragseinnahmen dieser Gruppe um ca. 1,8 Mrd. Euro über den für die neuen Versicherten fälligen Leistungsausgaben lägen, wenn die jetzigen Regeln zum Mindestbeitrag unverändert blieben. Allerdings würden die Selbstständigenhaushalte auch mit 1,7 Mrd. Euro zusätzlich belastet.
  • Bei der Absenkung bzw. Abschaffung des Mindestbeitrags nähert sich die wechselseitige Be- und Entlastung von GKV und Selbstständigenhaushalten der Nullgrenze: den Nettomindereinnahmen der GKV (0,2 bzw. 0,7 Mrd. Euro) stünden entsprechende Entlastungen der Selbstständigen (0,4 bzw. 0,8 Mrd. Euro) gegenüber. Unabhängig davon, ob sie heute privat oder gesetzlich versichert sind, würden Selbstständige mit geringem Einkommen in der GKV bei Abschaffung des Mindestbeitrags in der Regel entlastet. Besser verdienende Selbstständige hingegen würden entsprechend ihrer Leistungskraft herangezogen, ohne unverhältnismäßig mehr belastet zu werden.
Der entscheidende Punkt ist die Absenkung des Mindestbeitrags auf 70 Euro bei sehr niedrigen Einkommen der Selbständigen - das entspricht der Geringfügigkeitsschwelle von 450 Euro.

Das wäre für viele der derzeit völlig überforderten Selbständigen ein starker Anreiz. Die "Ärzte Zeitung" spricht denn auch in ihrem Artikel Selbständige sollten GKV-Mitglieder werden müssen von einer "brisanten Studie", die Feuer liefert für die "Idee einer Bürgerversicherung".

Das müsste doch beispielsweise sozialdemokratischen Gesundheitspolitikern gefallen, die doch immer proklamatorisch die Bürgerversicherung gefordert haben. Und dann muss man in dem Artikel Alle in die Kasse von Guido Bohsem das lesen:

»Das Modell stößt in der Politik allerdings nicht auf Begeisterung. "Das ist ein nobler Ansatz, der aber zu den falschen Ergebnissen führt", sagt der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. Statt die Zwei-Klassenmedizin abzuschaffen, würde man so die Zwei-Klassenmedizin auch für Selbstständige einführen.«

Das ist zwar im Grunde richtig, wenn man vom Endpunkt einer Bürgerversicherung aus denkt, in der ausnahmslos alle versichert sind. Aber der Ansatz der "integrierten Krankenversicherung" kann ja auch als Versuch gelesen werden, auf dem Weg zu einer umfassenden Bürgerversicherung über einen bzw. mehrere Zwischenschritte die Zahl derjenigen zu erhöhen, die bislang noch nicht drin sind im gesetzlichen System. Und seien wir ehrlich: Wo ist denn die bei Lauterbach durchschimmernde reine Lehre einer Bürgerversicherung in der politischen Realität geblieben?
Zugleich würde eine Realisierung dieses Zwischenschritts viele arme Selbständige substanziell entlasten und wieder einen entsprechenden Versicherungsschutz ermöglichen.

Und das bereits dieser Zwischenschritt auf erbitterten Widerstand stoßen würde, kann man auch aus diesen Punkten ableiten, die am Ende des Gutachtens erwähnt werden (vgl. IGES 2016: 33-34):
  • Ein Wechsel von über 70 Prozent der hauptberuflich Selbstständigen in die GKV führt zu merklichen Umsatzausfällen bei den Leistungserbringern, weil für privat versicherte Patienten höhere Honorare abgerechnet werden können. Diese „PKV-Mehrumsätze“ fallen je nach Variante im Gesamtjahr um schätzungsweise 1,7 bis 1,9 Milliarden Euro geringer aus. Man kann sich vorstellen, wie die Ärzte hier Amok laufen werden, wenn das nicht anderweitig kompensiert wird.
  • Für die in die GKV wechselnden Selbstständigen und ihre Angehörigen wurden in der PKV Alterungsrückstellungen gebildet. Unterstellt man einen proportionalen Anteil der insgesamt rund 1,4 Millionen wechselnden Personen an dem Bestand an Alterungsrückstellungen in der privaten Krankenversicherung (2014), so ergibt sich eine Größenordnung von rund 27 Milliarden Euro. Sollen die Mittel weiterhin ihre Funktion erfüllen, Beitragsbelastungen für diese Versicherten im Alter zu mindern, wären sie an die GKV zu übertragen, wobei dies sukzessive im Zeitverlauf geschehen könnte.
  • Schließlich hätte ein Verlust von rund 1,4 Millionen Versicherten massive Auswirkungen auf die finanzielle Lage der PKV, die für die einzelnen privaten Krankenversicherungsunternehmen je nach Versichertenstruktur unterschiedlich ausfallen würden.
Was für eine Baustelle. Aber ein möglicher und wichtiger Schritt auf dem Weg zur Überwindung des versäulten dualen Krankenversicherungssystems in Deutschland. Wenn das mit einer Beamtenabsicherungsmöglichkeit in der GKV gekoppelt werden würde, dann wäre das das Ende der PKV in ihrer bisherigen Gestalt. Aber der sukzessive Zusammenbruch des klassischen Geschäftsmodells der PKV läuft ja auch schon seit längerem und wird sich nicht aufhalten lassen, auch nicht durch eine Ablehnung des Ansatzes.