Sonntag, 26. Juni 2016

Mindestlohn-Bashing in Zukunft tabu? Die Stimme "der" Wirtschaft wird vom Bundesverwaltungsgericht allgemeinpolitisch beschnitten. Das ist auch sozialpolitisch relevant

Man kennt das aus den vielen sozialpolitischen Debatten, ob es nun um den Mindestlohn, die Mütterrente oder um die Rente mit 63 geht - immer findet man auch Stellungnahmen der Industrie- und Handelskammern (IHK) und ihres Dachverbands, also des DIHK (Deutscher Industrie- und Handelskammertag) mit oft sehr eindeutiger Positionierung, beispielsweise gegen den Mindestlohn. Dabei behaupten die Kammern und ihr Dachverband fortwährend, dass sie die Stimme "der" Wirtschaft seien, was ihnen natürlich in der politischen Arena und in der Medienberichterstattung eine entsprechende Aufmerksamkeit eröffnet.

Die 79 Industrie- und Handelskammern gehören zum Kernbereich des besonderen korporatistischen Arrangements in Deutschland. Das wird auch an ihrem besonderen Status erkennbar. Auf der einen Seite stehen sie für die Idee der Selbsthilfe durch Zusammenschluss und das Recht, dass Unternehmen ihre Angelegenheiten eigenverantwortlich regeln können, durchaus mit demokratischen Strukturelementen wie der Wahl ihrer Vertreter. Zugleich hat der Staat diese an sich auf Freiwilligkeit basierenden Strukturen gleichsam inkorporiert und aus den Kammern berufsständische Körperschaften des öffentlichen Rechts gemacht, wodurch sich neben der klassischen Interessenvertretung ihrer Mitglieder als zweite Aufgabensäule die Zuweisung an sich staatlicher Funktionen ergeben hat, man denke hier an den Bereich der Berufsbildung ( dazu gehören 555.000 Zwischen- und Abschlussprüfungen in der Ausbildung und 164.000 Prüfungen in der Weiterbildung). Insgesamt haben die IHK mehr als 50 Aufgaben, die ihnen vom Staat übertragen sind, so der DIHK. Sie begleiten Firmengründer, geben Auskunft bei Rechts- und Steuerfragen oder beraten bei der Expansion in internationale Märkte. Damit verbunden ist eine Staatsaufsicht, aber eben auch eine gesetzliche Pflicht zur Mitgliedschaft in diesen Einrichtungen, denen man sich nicht durch autonome Entscheidung entziehen kann, wenn man zum definierten Kreis der Zwangsmitglieder gehört.

Das ist wie (fast) alles in Deutschland in einem eigenen Gesetz geregelt worden - konkret mit dem Gesetz zur vorläufigen Regelung des Rechts der Industrie- und Handelskammern aus dem Jahr 1956. Das Gesetz ist ein Bundesgesetz und man hatte dadurch divergierende Modelle in den Bundesländern ausgeschlossen und eine bundeseinheitliche Regelung getroffen. Dort ist auch die seit langem umstrittene Pflichtmitgliedschaft in den Kammern geregelt.

An dieser Stelle nur eine kleine historische Fußnote: Nach dem Kriegsende lehnte die Militärverwaltung in der amerikanischen Besatzungszone die Pflichtmitgliedschaft der Gewerbetreibenden in der IHK ab, ebenso in der britischen und französischen Zone. Im Zuge der Gründung der Bundesländer wurde in vielen Ländern festgelegt, dass die IHKs paritätische Institutionen sein sollten. Dem wurde allerdings auch Einhalt geboten von den Besatzungsmächten.

Die Zwangsmitgliedschaft an sich ist aus unterschiedlichen Gründen und aus verschiedenen Lagern immer wieder in der Kritik, die - auch wieder typisch für Deutschland - eine eigene Institutionalisierung gefunden hat: den Bundesverband für freie Kammern, einer bundesweiten Vereinigung von Unternehmern, Handwerksbetrieben, Freiberuflern und Pflegekräften, die den Kammerzwang ablehnen. Schon diese Selbstbeschreibung der Kammerzwanggegner verweist mit den Pflegekammern auf eine höchst aktuelle sozialpolitische Baustelle, die aber hier nicht weiter besichtigt werden soll.

Nun kann man wie angesprochen aus ganz unterschiedlichen Gründen gegen eine Pflichtmitgliedschaft in einer Kammer sein. Für viele "Kammergegner" sind es vor allem die finanziellen Folgen dieser Regelung, denn sie müssen auch gegen ihren Willen den Zwangsbeitrag abführen. Das kann man dann grundsätzlich anlehnen mit dem Hinweis darauf, dass eine Mitgliedschaft freiwillig sein müsste, man kann auch argumentieren, dass die Beiträge zu hoch seien, da die bzw. einige Kammern offensichtlich erhebliche Überschüsse erwirtschaften.

Vgl. dazu höchst aktuell den Artikel IHK Köln verliert vor Gericht: »Drei Mitgliedsunternehmen hatten geklagt, weil sie die Beiträge für das Jahr 2015 für fehlerhaft hielten. Im Kern warfen die Kläger der IHK vor, rechtswidrig Vermögen angehäuft zu haben ... Seit 2011 wies die Kammer ... positive Jahresabschlüsse in Millionenhöhe aus. Nach Einschätzung der klagenden Unternehmer sind diese Gewinne bei der Festsetzung der Höhe ihres Beitrages zu Unrecht unberücksichtigt geblieben. Stattdessen wurden Gewinne vorgeschrieben und in verschiedene Rücklagen verbucht ... Das Gericht hat nun zwei der drei Klagen stattgegeben.« Und ebenfalls sehr aktuell dieser Artikel: IHK Berlin zahlt 13 Millionen Euro zurück: »Die Berliner Industrie- und Handelskammer (IHK) hat festgestellt, dass sie zu viel kassiert hat und schüttet nun Geld an Tausende Mitglieder aus.« Dazu der Hintergrund, der auch gut überleitet zu dem in diesem Beitrag hier relevanten Punkt: »Berlins IHK reagiert mit dem Schritt auf ein im Dezember 2015 vom Bundesverwaltungsgericht gefälltes Urteil gegen die IHK Koblenz (Az.: BVerwG 10 C 6.15). Damit setzten die Richter dem Kammern bei der Bildung von Rücklagen enge Grenzen. Die Veröffentlichung der Urteilsbegründung vergangenen Februar hatte für große Aufregung unter den 79 IHKen und beim Dachverband DIHK gesorgt. Hauptgeschäftsführer Martin Wansleben soll Anfang März eine Krisensitzung zum Thema im Bundeswirtschaftsministerium besucht haben, hört man – und zwar in Begleitung von zwei Dutzend besorgten Kammervertretern. Diese trugen offenbar teils abenteuerliche Begründungen vor, mit denen sie ein Einbehalten von Beiträgen rechtfertigen wollten: Zum Beispiel Vorsorge für die Zerstörung aller IHK-Daten durch einen Hackerangriff.«

Und nun geht es schon wieder um eine Entscheidung des bereits erwähnten Bundesverwaltungsgerichts. Das Urteil stammt schon aus dem März 2016 (vgl. dazu die Pressemitteilung des BVerwG vom 23.03.2016: Kammermitglied kann Austritt seiner IHK aus dem Dachverband verlangen, wenn dieser sich allgemeinpolitisch betätigt), nun wurde es auch in Gänze, also mit der ausführlichen Begründung veröffentlicht (vgl. dazu Az.: BVerwG 10 C 4.15).

Werfen wir einen Blick auf den dem Urteil zugrundeliegenden Sachverhalt:

»Geklagt hatte ein Unternehmen der Windenergiebranche aus Münster, das unter anderem bemängelte, der (frühere) Präsident des DIHK habe sich wiederholt zu allgemeinpolitischen Themen sowie einseitig zu Fragen der Umwelt- und Klimapolitik geäußert. Der Kläger ist gesetzliches Mitglied der örtlichen Industrie- und Handelskammer Nord Westfalen, die ihrerseits dem DIHK angehört. Er forderte die örtliche Kammer schon 2007 zum Austritt aus dem Dachverband auf, weil dessen Tätigkeit den gesetzlichen Kompetenzrahmen der Industrie- und Handelskammern überschreite. Als die Kammer sich weigerte, erhob der Kläger gegen sie Klage auf Austritt aus dem Dachverband. Klage und Berufung blieben ohne Erfolg.«

Das Bundesverwaltungsgericht hat die Entscheidungen der Vorinstanzen aufgehoben und dem Kläger Recht gegeben. Zur Begründung hatte das BVerwG ausgeführt, »dass ein Unternehmen durch die gesetzliche Pflicht, einer berufsständischen Kammer anzugehören, in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit beschränkt wird. Deshalb muss es die Tätigkeit der Kammer nur in dem Rahmen hinnehmen, den das Gesetz der Kammer zieht ... die Wahrnehmung sozialpolitischer und arbeitsrechtlicher Interessen ist ausdrücklich ausgenommen.«

Und grundsätzlich spricht nichts dagegen, dass sich die einzelnen Industrie- und Handelskammern zu einem Dachverband zusammenschließen: »Die Interessen der Gewerbetreibenden werden auch durch überregionale Fragen berührt, weshalb die Kammern sich zu einem Dachverband wie dem DIHK zusammenschließen dürfen, um ihre Belange gegenüber den Ländern, dem Bund oder der Europäischen Union zu vertreten.«

Aber dann wirft das BVerwG eine gewichtige Einschränkung in den Raum:

»Das setzt aber voraus, dass der DIHK sich seinerseits innerhalb des den Kammern gesetzlich gezogenen Kompetenzrahmens bewegt. Äußert der DIHK sich demgegenüber auch zu allgemeinpolitischen oder zu sozialpolitischen und arbeitsrechtlichen Themen, so darf keine Kammer dies dulden. Dasselbe gilt, wenn der DIHK die Interessen der Kammern einseitig oder unvollständig repräsentiert, namentlich beachtliche Minderheitspositionen übergeht, oder wenn die Art und Weise seiner Äußerungen den Charakter sachlicher Politikberatung verlässt und die Gebote der Sachlichkeit und Objektivität missachtet. In derartigen Fällen kann jedes Kammermitglied von seiner Kammer verlangen, das Nötige zu tun, dass der DIHK weitere Kompetenzüberschreitungen unterlässt; bei Wiederholungsgefahr kann es von seiner Kammer verlangen, aus dem DIHK auszutreten.«
Thomas Öchsner hat seinen Artikel über die nunmehr veröffentlichte ausführlich Begründung unter diese Überschrift gesetzt: Bundesrichter setzen Lobbyisten Grenzen: »Als Beispiel nannte das Gericht kritische Äußerungen des Deutschen Industrie- und Handelskammertags (DIHK) zum Mindestlohn, zur Mütterrente, zur Rente mit 63 ... Alle diese Stellungnahmen seien "nicht mehr von der Kammerkompetenz gedeckt."«

Auch "polemisch überspitzte Stellungnahmen, die auf eine emotionalisierte Konfliktaustragung zielen, sind unzulässig". Bei Mehrheitsentscheidungen seien "gegebenenfalls beachtliche Minderheitspositionen darzustellen". Dieser rechtlich enge Rahmen gelte auch für den Dachverband DIHK.

Das ist von großer Bedeutung für die weiter Zwangsmitglieder bleibenden Mitglieder, die sich völlig falsch vertreten sehen von vielen - bisherigen - sozialpolitischen Stellungnahmen.

Beispiel Mindestlohn: In der Öffentlichkeit wurde transportiert, dass "die" Wirtschaft, "die" Unternehmen gegen den gesetzlichen Mindestlohn seien, dass der Mindestlohn Schaden anrichten werde. Nun kann es nicht nur theoretisch Unternehmen geben, sondern es gibt sie faktisch auch, die eine ganz andere Sichtweise auf den Mindestlohn haben, die seine Existenz und die sanktionsbewährte flächendeckende Durchsetzung der Lohnuntergrenze in allen Betrieben gerade auch aus Sicht der Unternehmen, die sich ordentlich verhalten, als positiv befürworten und darin ein Instrument gegen wettbewerbsverzerrendes Lohndumping sehen. Die müssen dann durch ihre Mitgliedsbeiträge, denen sie sich anders als Gewerkschafter oder Mitglieder in Arbeitgeberverbänden nicht durch Austritt entziehen können, die einseitige Propaganda der Funktionäre mitfinanzieren.

Thomas Öchsner erkennt in dem Urteil politischen Sprengstoff, so seine Wertung in dem Kommentar Eingeschränkt politisch.  Er stellt klar: »Das Urteil ist kein Maulkorb für den Wirtschaftsverband. Dieser kann sich weiter zu Themen äußern, bei denen es um die Interessen der Kammern geht. Als Beispiel nennt das Gericht etwa Ganztagsschulen oder duale Studiengänge.« Kai Boeddinghaus, Geschäftsführer des Bundesverbands für freie Kammern, wird mit diesen Worten zitiert: "Die allgemeinpolitischen Eskapaden des Dachverbands wie etwa sein Nein zum Mindestlohn dürften damit vorbei sein".

Und das ist auch gut so. Der DIHK selbst hat in einer sehr kurzen Pressemitteilung vom 21.06.2016 ausgeführt: »Der DIHK wird selbstverständlich zukünftig den vom Gericht neu konkretisierten rechtlichen Rahmen einhalten.« Das gibt Anlass zur Hoffnung, dass wenigstens von dieser Seite keine mehr als einseitigen sozialpolitischen Stellungnahmen zu befürchten sind. Für die es übrigens ganz andere Institutionen gibt, die das noch viel "besser" können. Richtig gut wäre es, wenn die Heterogenität der Mitglieder in den IHKn besser abgebildet wird bei sehr strittigen Fragen in der Öffentlichkeitsarbeit, also der, die weiterhin zulässig ist. Aber das ist jetzt ein Problem für die Kammern.