Donnerstag, 16. Juni 2016

Seine Anhebung als Gesamtabwägung oder Excel-Aufgabe. Bei Langzeitarbeitslosen läuft es nicht. Und dann auch noch der "Praktikumskiller". Die Rede ist vom gesetzlichen Mindestlohn


Der gesetzliche Mindestlohn ist derzeit mal wieder Thema und die Diskussion wird aus ganz unterschiedlichen Richtungen gespeist. Da ist zum einen die bis Ende Juni abzugebende erste Empfehlung der Mindestlohnkommission, ob und in welcher Höhe die gesetzliche Lohnuntergrenze für (fast) alle zum 1. Januar 2017 angehoben werden soll. Dann gibt es nun auch eine wissenschaftliche Unterfütterung für die schon während des Gesetzgebungsverfahrens vorgetragene Argumentation, dass die seitens der Union in das Mindestlohngesetz (MiLoG) als symbolisches Bauernopfer reingedrückte Ausnahmemöglichkeit von Langzeitarbeitslosen keinen Sinn macht und nicht funktionieren wird. Und dann sind da ganz handfeste Folgen der praktischen Umsetzung des Mindestlohnvorschrifen, man denke hier nur an das erste Mindestlohnurteil des Bundesarbeitsgerichts, mit dem die Verrechnung bisheriger Sonder- oder Zusatzleistungen wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld abgesegnet wurde (vgl. dazu Der Mindestlohn ist eben nur eine Lohnuntergrenze, die man auch erreichen kann, wenn man das Zusätzliche zum Mindesten macht vom 25. Mai 2016) oder auf der anderen Seite die große Klage über den "Praktikumskiller" Mindestlohn, der vielen jungen Menschen jetzt eine glanzvolle Karriere beispielsweise bei den Werbeagenturen verbauen wird, weil sie nicht mehr wie früher monate-, wenn nicht jahrelang im Niemandsland des Praktikanten verharren dürfen, immer in der Hoffnung auf irgendwann mal irgendeine "richtige" Anstellung.

Beginnen wir unsere Tour durch die aktuelle Mindestlohndiskussionslandschaft mit der Ausnahmeregelung für Langzeitarbeitslose. Die wurde auf Druck der CDU/CSU im Gesetzgebungsverfahren geboren und in den § 22 Absatz 4 MiLoG gegossen: »Für Arbeitsverhältnisse von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, die unmittelbar vor Beginn der Beschäftigung langzeitarbeitslos im Sinne des § 18 Absatz 1 des Dritten Buches Sozialgesetzbuch waren, gilt der Mindestlohn in den ersten sechs Monaten der Beschäftigung nicht.«
Das wurde schon damals heftig kritisiert - vgl. dazu nur meinen entsprechenden Blog-Beitrag Je näher der gesetzliche Mindestlohn kommt, desto konkreter werden die offenen Fragen. Beispielsweise: Wer ist eigentlich ein Langzeitarbeitsloser und wie erkennt man rechtssicher einen solchen? vom 21. Juli 2014, also lange vor dem Inkrafttreten des Mindestlohngesetzes.
Nicht nur in diesem Blog-Beitrag wurde neben systematischen Bedenken gegen diese gewillkürt daherkommende Ausnahmeregelung darauf hingewiesen, dass wir erleben werden, dass die Möglichkeit der Ausnahme in der Praxis kaum zu beobachten sein wird.

Das wurde dann in dem Blog-Beitrag Die nicht existenten Nicht-Mindestlohn-Langzeitarbeitslosen. Von einer Opfergabe innerhalb der Großen Koalition vor dem Mindestlohngesetz zu einer erwartbar geplatzten Seifenblase vom 12. Mai 2016 nochmals im Lichte der Erfahrungen aus den vergangenen Monaten wieder aufgerufen.

Und wer den Ausführungen hier keinen Glauben schenken mag, der kann sich jetzt aus einer anderen Quelle bedienen lassen, denn im § 22 Absatz 4 MiLoG findet man auch diesen Auftrag formuliert:

»Die Bundesregierung hat .... zum 1. Juni 2016 darüber zu berichten, inwieweit die Regelung nach Satz 1 die Wiedereingliederung von Langzeitarbeitslosen in den Arbeitsmarkt gefördert hat, und eine Einschätzung darüber abzugeben, ob diese Regelung fortbestehen soll.«

Mit dieser Berichterstattung wurde das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit beauftragt und die hat geliefert.

Die Mindestlohn-Ausnahme für Langzeitarbeitslose wird so gut wie gar nicht genutzt. Das ist der zentrale Befund und der ist nicht wirklich überraschend, aber jetzt auf 124 Seiten akribisch dokumentiert. Das berichtet jedenfalls Thomas Öchsner, dem der Bericht schon vorliegt,  in der Süddeutschen Zeitung unter der bezeichnenden Überschrift Mindestlohn-Ausnahme wird kaum genutzt - und trotzdem nicht abgeschafft:

Wer einen Langzeitarbeitslosen einstellt, darf diesem sechs Monate lang keinen Mindestlohn zahlen. Das sollte Menschen, die länger als ein Jahr auf Jobsuche sind, eine Brücke zum Einstieg in den Arbeitsmarkt bauen. Das war die Argumentation der Union bei der gesetzgeberischen Umsetzung des gesetzlichen Mindestlohns 2014.

In dem neuen Gutachten bilanziert das IAB trocken und erwartbar:

»Die Ausnahmeregelung entfalte "bislang keine Wirkung auf dem deutschen Arbeitsmarkt". Die Sonderregel werde "nur in sehr wenigen Fällen angewandt".«

Nach dem Gutachten haben weder Arbeitgeber noch Arbeitnehmer oder die Arbeitsvermittler ein Interesse daran, die Ausnahmeregelung zu nutzen:

»Bei den allermeisten Arbeitgebern gibt es dem Gutachten zufolge große Vorbehalte gegenüber Langzeitarbeitslosen, vor allem, weil sie diese für nicht produktiv genug halten. Daran könnten auch mögliche vorübergehende Lohnvorteile nicht viel ändern. Hinzu kommt: Manche Arbeitgeber befürchten Ärger mit der restlichen Belegschaft. Diese könnte sich durch "eine Aufweichung der Lohnstruktur nach unten" bedroht fühlen, heißt es in dem Gutachten.«

»Bei den Langzeitarbeitslosen selbst scheitere die Nutzung der Ausnahme schon daran, dass viele die Sonderregel gar nicht kennen. In den Jobcentern wiederum ist eine Vermittlung über die Sechs-Monats-Regel mit Mehrarbeit verbunden, weil nachzuweisen ist, dass der Kandidat wirklich ein Jahr ohne Job war. Die Ausnahme werde "als Diskriminierung von Langzeitarbeitslosen angesehen". Außerdem gebe es geeignetere Mittel, solche Erwerbslose bei Betrieben unterzubringen, wie etwa Lohnkostenzuschüsse.«

Trotzdem wird die Ausnahme wohl nicht abgeschafft, obwohl Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) genau das vorgeschlagen hat und durch den neuen IAB-Bericht darin auch unterstützt wird. Aber: Das Bundeskanzleramt »habe aber durchblicken lassen, dass das Gesetzespaket dann - wie von der Union gefordert - auch für andere Ausnahmen wie für Praktika wieder aufgeschnürt werden müsse. Und das will Nahles nicht.«

Die arbeitsmarktpolitische Sprecherin der Grünen, Brigitte Pothmer, hält die Blockade der Union für unredlich und wird so zitiert: "Weitere Spielchen auf dem Rücken der Betroffenen verbieten sich von selbst." Inhaltlich richtig, aber so wird es weiter laufen.

Können die Mindestlöhner dann wenigstens auf einen ordentlichen Schluck aus der Pulle hoffen? Immerhin haben wir doch in den vergangenen Monaten so einige Tarifabschlüsse erlebt, deren Volumen Auswirkungen haben müssten auf die nun anstehende Anpassung der Höhe des gesetzlichen Mindestlohns zum 1. Januar 2017.

Und dafür gibt es eine eigene Mindestlohnkommission, die im MiLoG verankert ist - und auch, wie sie vorgehen soll bei der Beantwortung der Frage, wie viel mehr soll es denn (überhaupt) sein.
Aber man muss wohl gleich an dieser Stelle eine Menge Wasser in den Wein gießen, denn zu viel wird man nicht erwarten dürfen von dieser Kommission. Das wurde bereits angesprochen in diesem Blog-Beitrag: Es gibt mehr. Mehr Mindestlohn. Also wahrscheinlich etwas mehr. Und später dann ganz sicher noch mehr, wenn nicht ... vom 29. Mai 2016.

Die Mindestlohnkommission besteht paritätisch aus Arbeitgeber- und Gewerkschaftsvertretern, einem Vorsitzenden und zwei Wissenschaftlern ohne Stimmrecht. Ihre Arbeit ist eine Art Ersatz für Tarifverhandlungen, denn die kann keiner für die Mindestlöhner führen.

Wie alles in unserem Land ist auch die Arbeit der Kommission gesetzlich geregelt. Selbst die Frage, wie denn hinsichtlich der Anpassung des Mindestlohns gearbeitet werden soll, findet man eine Regelung, konkret im § 9 MiLoG. Dort bestimmt der Absatz 1: »Die Mindestlohnkommission hat über eine Anpassung der Höhe des Mindestlohns erstmals bis zum 30. Juni 2016 mit Wirkung zum 1. Januar 2017 zu beschließen. Danach hat die Mindestlohnkommission alle zwei Jahre über Anpassungen der Höhe des Mindestlohns zu beschließen.«
Und zum konkreten Vorgehen sagt der Absatz 2:

»Die Mindestlohnkommission prüft im Rahmen einer Gesamtabwägung, welche Höhe des Mindestlohns geeignet ist, zu einem angemessenen Mindestschutz der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer beizutragen, faire und funktionierende Wettbewerbsbedingungen zu ermöglichen sowie Beschäftigung nicht zu gefährden. Die Mindestlohnkommission orientiert sich bei der Festsetzung des Mindestlohns nachlaufend an der Tarifentwicklung.«

Genau diese nachlaufende Orientierung an der Tarifentwicklung ist gegenwärtig das Problem. Denn für die erste Anpassung, deren Höhe bis Ende Juni feststehen muss und die von 2017 an wirksam wird, hat die Kommission entschieden, ausschließlich die Tarifentwicklung von Januar 2015 bis Juni 2016 zu berücksichtigen. Eigentlich sollten immer zwei Jahre nachgezeichnet werden. Diesmal aber würden aktuelle Tarifabschlüsse weitestgehend außen vor bleiben. Im Baugewerbe und im öffentlichen Dienst laufen noch die Erklärungsfristen, vor allem aber der gewichtige Abschluss der Metaller wirkt zu spät: Erst vom 1. Juli an gibt es hier mehr Geld.

In Cent bedeutet das: Der Mindestlohn würde von 8,50 auf 8,77 Euro steigen. Wenn man die jüngsten Abschlüsse mit einberechnen würden, könnten es 8,87 Euro sein. Schon diese üppigen 10 Cent wollen die Arbeitgeber verhindern und können das auch in der Kommission, denn die Arbeitgeber können nicht überstimmt werden. Da ist keine Alternative in Sicht, schließlich können Mindestlöhner ja nicht gegen eine Kommission streiken. Ein echtes Arbeitnehmer-Dilemma.

Wenn man den gesetzlichen Auftrag aber so kleinteilig auslegt, dann spricht alles für den Ersatz dieser Kommission durch eine Excel-Tabelle. Die enthält den Tarifindex und den liefern die Bundesstatistiker. Man müsste einfach die Werte eingeben und gut ist. Die Reisekosten und die Geschäftsstelle der Kommission ließen sich einsparen.

Aber dem Gesetz könnte man auch einen anderen Ansatz entnehmen, denn in dem zitierten Absatz 2 des § 9 MiLoG steht etwas von einer „Gesamtabwägung“, die man vornehmen könnte. In so einem Rahmen würde man beispielsweise darüber diskutieren, was die Arbeitnehmer nötig haben. Aus Sicht des Rentenrechts etwa bräuchte es schon heute einen Mindestlohn von 11,68 Euro, um nach 45 Jahren eine gesetzliche Rente zu erhalten, die oberhalb der Grundsicherung für Ältere liegt. So eine Kommission würde streiten, ob 8,77 oder 8,87 Euro, wohlgemerkt ab 2017 für dann zwei Jahre, wirklich noch ausreichend sind.

Auf der anderen Seite müsste aber bei einer Gesamtabwägung - so auch der Gesetzestext - berücksichtigt werden, dass Beschäftigung nicht gefährdet werden soll. Das nun wieder berührt einen schwierigen Aspekt des gesetzlichen Mindestlohns, den man erkennen kann, wenn man sich die Abbildung am Anfang des Beitrags anschaut. Eine interaktive Version der Karte, wo man sich die Werte für die einzelnen Arbeitsmarktregionen anschauen kann, gibt es hier. Man erkennt, dass die Betroffenheit der regionalen Arbeitsmärkte von der derzeitigen und damit auch von einer zukünftigen Höhe des Mindestlohns gemessen am Kaiz-Index eine erhebliche Streubreite aufweist und wir unmittelbar vor Beginn des Wirksamwerdens des gesetzlichen Mindestlohns mit einem ausgeprägten Ost-West-Gefälle konfrontiert waren (und sind). Wenn man also mit Blick auf den Westen und vor allem auf den Süden unseres Landes durchaus mit sehr guten Argumenten für einen Mindestlohn streiten könnte, der nicht nur eine 9, sondern vielleicht sogar eine symmetrischer und damit viel schöner wirkenden 10 von dem Komma hätte, sieht das in vielen Regionen Ostdeutschlands ganz anders aus.

Aber so wie es derzeit aussieht, wird es um solche Fragen gar nicht (mehr) gehen, sondern die Anhebung wird in einem sehr überschaubaren Bereich landen.

Und wenn dann doch mal jemand einen richtigen Schluck aus der Pulle fordert - so beispielsweise die Katholische Arbeitnehmer-Bewegung Deutschlands (KAB), die sich ausgesprochen hat »für eine sofortige Anhebung auf 9,70 Euro pro Stunde ... Darüber hinaus solle in den nächsten Jahren der gesetzliche Mindestlohn stufenweise auf 12,50 Euro erhöht werden«, so der Artikel Sozialverband KAB für deutliche Anhebung des Mindestlohns -, dann wird gleich die Keule mit den zerstörerischen Effekten des Mindestlohns herausgeholt.
Beispielsweise das Gerede vom Mindestlohn als "Praktikumskiller". Vgl. dazu den Artikel Unternehmen bieten weniger Praktika an von Matthias Kaufmann. Der berichtet: »Fast jede zweite Firma, die vorher nach Praktikanten suchte, hat derzeit keine entsprechenden Stellen mehr. Das geht aus einer Untersuchung des Ifo-Instituts und des Personaldienstleisters Randstad hervor.«

Abr Kaufmann spricht das eigentliche und letztendlich unauflösbare Dilemma an:

»Das sind die zwei Seiten: Einerseits besteht die Chance, dass durch den Mindestlohn auch Praktika wegfallen, die in Wahrheit Billigarbeitsplätze waren. Andererseits könnten auch Gelegenheiten für praktische Berufserfahrungen wegfallen, die jungen Menschen mehr gebracht hätten als nur Geld.«

Man sollte sich an solchen Stellen nicht irre machen lassen: Selbstverständlich zerstört die Regelung mit den Mindestlöhnen das Geschäftsmodell einzelner Unternehmen oder gar einzelner Branchen, die vorher haben setzen können auf eine individuell im Grunde unbegrenzte Ausbeutungskapazität bei "Praktikanten", bei denen es aber im Regelfall um Studienabsolventen handelte, die man natürlich gewinnbringend einsetzen konnte, vor allem in den langen Zeiträumen, die es nun so nicht mehr geben darf. Wenn solche Praktika begrenzt oder gar verunmöglicht werden, dann ist das sicher betriebswirtschaftlich ein Problem, volkswirtschaftlich kann es genau das Gegenteil bewirken.

Und wer angesichts des in den kommenden Wochen wieder anschwellenden Wehgeklages unsicher wird, ob das nicht doch zu einem Arbeitsplatzabbau führen könnte (obwohl bis an den aktuellen Rand das Gegenteil der Fall war und ist), dem sei an dieser Stelle dieser Beitrag empfohlen:

Simon Sturn: Führen Mindestlöhne zu höheren Löhnen auf Kosten steigender Arbeitslosigkeit?

Sturn referiert die Befunde der modernen Mindestlohnforschung, die insgesamt gesehen zu dem Ergebnis kommen, dass Mindestlöhne klar nachweisbar zu höheren Löhnen führen, sich hingegen wenig konkrete Hinweise auf signifikante Beschäftigungsverluste finden lassen (aber auch nach oben nur sehr geringe bis gar keine Beschäftigungseffekte zeigen). Für Interessierte hier die ausführliche Studie von Simon Sturn: Do minimum wages lead to job losses? Evidence from OECD countries on low-skilled and youth employment, Amherst, April 2016).

Und noch eines dazu: Wer sich informieren möchte über ansonsten eher unterbelichtete positive Aspekte eines (höheren) Mindestlohns, dem sei beispielsweise diese Studie empfohlen:

Aaron Reeves et al.: Introduction of a National Minimum Wage. Reduced Depressive Symptoms in Low-wage Workers, Health Economics, April 2016.

Die haben festgestellt, dass sich der Gesundheitszustand von Beschäftigten mit sehr niedrigen Löhnen im Vereinigten Königreich nach 1999 messbar verbessert – also nach der Einführung des landesweit gültigen gesetzlichen Mindestlohns. In der Gruppe derjenigen, die der Mindestlohn auf eine höheres Einkommensniveau gehoben hat, verbesserte sich der Gesundheitszustand. Besonders Ängste und Depressionen gingen merklich zurück. In einer Kontrollgruppe, die gerade so viel verdiente, dass sich ihr Einkommen durch den Mindestlohn nicht änderte, blieb der durchschnittliche Gesundheitszustand dagegen unverändert.