Mittwoch, 24. Februar 2016

Armut macht krank und Krankheit kann arm machen und beides zusammen führt oftmals in einen Teufelskreis

In diesen Tagen wurde wieder einmal gehadert mit der "Armut". Also weniger mit dem Tatbestand der Armut von Menschen, sondern mit der Berichterstattung darüber. Auslöser war der neue Armutsbericht des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und anderer Verbände. Vgl. dazu den Beitrag Von der Armut, ihren Quoten, ihrer kritischen Diskussion - und von abstrusen Kommentaren vom 23.02.2016. Dabei gab es neben der üblichen Schelte an der Methodik der Messung einer relativen Einkommensarmut auch eine sachlich ausgerichtete Darstellung wichtiger Befunde neben der allgemeine Quote der Einkommensarmutsgefährdung, vor allem der Gruppen, bei denen wir eine überdurchschnittliche Betroffenheit prekärer Lebenslagen beobachten müssen. So beispielsweise in dem Übersichtsbeitrag Das sind die fünf größten Armutsrisiken von Frank Specht in der Online-Ausgabe des Handelsblatts oder in diesem Tagesschau-Beitrag.

Ein ganz besonders wichtiger Aspekt der Armutsdiskussion ist der Zusammenhang von Armut und Gesundheit. Darauf geht beispielsweise der Artikel Armut erhöht Herzinfarkt-Risiko von Susanne Werner ein.

Wer in Europa über weniger als die Hälfte des mittleren Einkommens verfügt, gilt nicht nur als arm, sondern ist gesundheitlich sehr viel stärker gefährdet als wohlhabendere Bürger. Dazu Susanne Werner in ihrem Artikel:

»Das zeigte sich im jüngst veröffentlichten Herzbericht der Deutschen Herzstiftung. Demnach wohnen in Bundesländern mit hohen Arbeitslosigkeitsraten und niedrigen Bildungsgraden auch deutlich mehr Menschen mit kardialen Erkrankungen.
Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) haben Arme ein zwei-, bis dreifach erhöhtes Risiko an einem Herzinfarkt, an einem Diabetes oder einer chronischen Bronchitis zu erkranken.
Auch leiden sie häufiger an psychischen Beschwerden und haben eine niedrigere Lebenserwartung - bei Frauen sind es acht Jahre, bei Männern elf Lebensjahre weniger. Jungen und Mädchen, die in prekären Lebensverhältnissen aufwachsen, leiden vermehrt unter Entwicklungsverzögerungen sowie an ernährungsbedingten Krankheiten.«

Vieles spricht dafür, dass die Medizin in Deutschland Defizite etwa in der Bildungs- und Familienpolitik oder in der Arbeitswelt ausgleichen muss. Eine teure symptomatische Therapie, bilanziert Susanne Werner. Zu den Erkenntnissen des Robert-Koch-Instituts vgl. beispielsweise die Veröffentlichung Soziale Unterschiede in der Mortalität und Lebenserwartung aus dem Jahr 2014.

In dieses Themenfeld passt dann auch so eine Erkenntnis: Bestätigt: Zusammenhang zwischen Rheuma und Armut:
»Patienten mit Rheumatoider Arthritis (RA) haben mit 22,4 Prozent ein deutlich höheres Armutsrisiko als Gesunde in Brandenburg (13,6 Prozent), haben Forscher vom Rheumazentrum Nord-Brandenburg festgestellt. Zudem scheinen sich Armut und Krankheit gegenseitig zu verstärken, meldet die Deutsche Rheuma-Liga ... 40 Prozent der befragten RA-Patienten mussten wegen ihrer Erkrankung ihre sozialen Aktivitäten stark einschränken. Bei 38 Prozent betraf dies Hobbys oder Sport. 21 Prozent gaben an, dass es ihnen schwer fällt, auf öffentliche Verkehrsmittel zurückzugreifen. Jeder Dritte musste wegen der rheumatischen Erkrankung den Job wechseln, 26 Prozent wurden frühzeitig berentet.«

Damit sind wir wieder bei einer dieser letztendlich unlösbaren Aufgaben angekommen: Was war zuerst da: Die Henne oder das Ei? Verursacht Armut Krankheit oder macht Krankheit arm?

Konkret geht es hier um die Frage nach Selektion und/oder Kausalität:
Selektion bedeutet, dass chronisch erkrankte Personen ein erhöhtes Risiko haben, arbeitslos zu werden. In der Folge sind Menschen mit solchen Erkrankungen in der Gruppe der Arbeitslosen überrepräsentiert (=> Krankheit verursacht Arbeitslosigkeit).
Kausalität hingegen bedeutet, »dass Arbeitslosigkeit selber zu einem Auslöser von Erkrankungen werden kann. Arbeitslosigkeit stellt einerseits eine schwere psychische Belastung für die Betroffenen dar, die besonders auf längere Sicht ein erhöhtes Erkrankungsrisiko mit sich bringt. Andererseits ist ökonomische Armut eine wichtige Determinante von Gesundheit und Lebenserwartung – weil zum Beispiel gesunde Ernährung, Lebensumwelt, die Teilhabe an sozialen Aktivitäten und der Zugang zu medizinischer Versorgung vom Einkommen abhängen«. Es geht also um => Arbeitslosigkeit verursacht Krankheit.

Die Antwort kann nur in der Mitte liegen - also ein Sowohl-als-auch.

Dazu bereits der Blog-Beitrag Ein mehrfaches Drama in Zahlen: Zur gesundheitlichen Situation von langzeitarbeitslosen Menschen vom 19. Juli 2013, der u.a. von dieser Arbeit berichtet hat: Herbig, B. et al. (2013): Gesundheitliche Situation von langzeitarbeitslosen Menschen, in: Deutsches Ärzteblatt, Heft 23-24, 2013, S. 413-419.  Denn hier wird ein besonderer Blick geworfen auf den Zusammenhang zwischen (Nicht-)Gesundheit und Arbeitslosigkeit (vgl. dazu auch die Info-Plattform Arbeitslos – Gesundheit los – chancenlos? des IAB) und gerade die Arbeitslosen, vor allem in Gestalt der Langzeitarbeitslosen, sind die Gruppe, die am stärksten von echter Armut betroffen ist.

Nur zur Erinnerung aus der Analyse von Herbig et al. (2013):

»Bei Versicherten der Gmünder Ersatzkasse (GEK) mit 1 bis unter 2 Jahren Arbeitslosigkeit zeigte sich im Vergleich zu den durchgängig Berufstätigen eine 1,6-fach erhöhte Mortalität, bei Personen mit mindestens 2 Jahren Arbeitslosigkeit in den vorangehenden 3 Jahren war im Folgezeitraum das Mortalitätsrisiko 3,4-fach erhöht.«

»Beispiel Herzinfarkte: »Auswertungen von Krankenkassendaten von Personen, die aus einem bestehenden Arbeitsverhältnis heraus in die Arbeitslosigkeit gerieten, zeigten, dass Krankenhauseinweisungen aufgrund von Herzinfarkten mit der Dauer der Arbeitslosigkeit anstiegen: In den ersten 8 Monaten betrug das relative Risiko 1,49 ..., nach 8 bis 16 Monaten 1,82 ... und nach mehr als 16 Monaten 3,08«. Das sind gewaltige Unterschiede.

Eine Studie aus den USA »ergab, dass – unter Kontrolle anderer kardiovaskulärer Risikofaktoren – das Risiko für einen Herzinfarkt ... und einen Schlaganfall ... nach Eintritt einer unfreiwilligen Arbeitslosigkeit um mehr als das Doppelte anstieg im Vergleich zu weiterhin berufstätigen Personen«.


Diese Befunde sind bedeutsam - beispielsweise auch für die Auseinandersetzung mit den Kosten der Arbeitslosigkeit. Gesamtfiskalische Kosten der Arbeitslosigkeit im Jahr 2014 in Deutschland - so lautet der Titel einer neuen Veröffentlichung des IAB der Bundesagentur für Arbeit: »Die fiskalischen Kosten der Arbeitslosigkeit betrugen 2014 insgesamt 56,7 Milliarden Euro ... Die gesamten fiskalischen Kosten bestehen aus Versicherungsleistung, Sozialleistung, Mindereinahmen an Steuern und Mindereinnahmen an Sozialversicherungsbeträgen.« Die so berechneten Kosten lagen 2014 pro Arbeitslosen bei 19.600 Euro pro Jahr. Was bei dieser Rechnung aber eben nicht in Rechnung gestellt wird, sind die über dem Durchschnitt liegenden Kosten in anderen Systemen des Sozialstaats, also beispielsweise die deutlich überdurchschnittlichen Krankheitskosten. Es handelt sich hierbei um die "versteckten" Kosten der Arbeitslosigkeit.

Das verweist auf Ansatzpunkte politischen Handelns. Immer wieder wird man konfrontiert mit der krankmachenden Wirkung langandauernder Arbeitslosigkeit. Wenn das so ist, dann müsste einer aktiven Beschäftigungsförderung eine zentrale Rolle zukommen. Damit ließen sich enorme Ausgaben an anderer Stelle, hier im Bereich der Krankenversicherung, einsparen. Das ist von großer Bedeutung, wenn man nachdenken muss über die Gegenfinanzierung von sinnvoller öffentlich geförderter Beschäftigung gerade für langzeitarbeitslose Menschen.

Allerdings würde das ein Denken über die versäumten Systeme voraussetzen. Und das scheint irgendwie ein echtes Problem zu sein.