Donnerstag, 1. Oktober 2015

Tarifflucht des Arbeitgebers und Zwangsteilzeit für die Beschäftigten. Das ist Real. Wieder einmal über eine Branche auf der Rutschbahn nach unten

Man kann ein eigenes Archiv eröffnen, wenn es um die Arbeitsbedingungen im Einzelhandel geht. Und dieses Archiv mit unzähligen Berichten hätte eine recht eindeutige Unwucht ab dem Jahr 2000. Denn bis dahin galt der Einzelhandel als eine relativ wohlgeordnete Branche. Die meisten Beschäftigten hatten eine Ausbildung, die Arbeitgeber waren tarifgebunden – wenn auch einige nicht freiwillig, sondern weil das Tarifwerk allgemein verbindlich war. Das bedeutet, alle Unternehmen mussten sich an die tariflichen Bestimmungen halten. Dadurch gab es eine wirkkräftige Sperre für Dumpingversuche einzelner Unternehmen, denn die waren schlichtweg nicht möglich.
Die damalige rot-grüne Bundesregierung unter Gerhard Schröder hat dem ein Ende gesetzt, als auf Druck der Arbeitgeber die Allgemeinverbindlichkeit aufgehoben wurde. Seit diesem Schritt muss man beobachten, wie die gesamte Branche auf eine Rutschbahn nach unten gesetzt wurde, denn nunmehr lohnte es sich für einzelne Unternehmen, nach unten auszubrechen und beispielsweise durch Lohndumping bei den eigenen Beschäftigten Kostenvorteile gegenüber der Konkurrenz zu „erwirtschaften“. Was dann natürlich auch prompt geschehen ist. Nun hat so eine Rutschbahn die unangenehme Konsequenz, dass sie früher oder später auch di mit nach unten zieht, die eigentlich diesen Weg nicht gehen wollten, denn die Kostenvorteile der anderen, die die neue Bewegungsfreiheit genutzt haben, wurden bzw. werden in einer Branche, die sich durch einen brutalen Preiskrieg und sehr niedrige Margen auszeichnet, so elementar, dass man sich dem dadurch ausgelösten Druck nicht auf Dauer entziehen kann.

Dass das nicht nur Theorie ist, müssen wir diese Tage an einem neuen Fallbeispiel beobachten. Es geht um die Einzelhandelskette Real. »Die Unternehmensleitung ist aus der Tarifbindung ausgestiegen und will einen Haustarif mit geringerer Bezahlung verhandeln«, berichtet die WirtschaftsWoche in dem Artikel Mitarbeiter demonstrieren gegen Lohnkürzungen.

Johannes Supe gibt uns in seinem Artikel Einzelhändler auf der Flucht weiterführende Informationen:

»Am 17. Juni erklärte Real, die Einzelhandelskette der Metro Group, man wolle seine Stellung im Unternehmerverband HDE ändern. Künftig werde man in eine »Mitgliedschaft ohne Tarifbindung« wechseln. Der Flächentarifvertrag des Einzelhandels verzerre den Wettbewerb, erklärte der Vorsitzende der Real-Geschäftsführung, Didier Fleury. Real müsse 30 Prozent höhere Lohnkosten aufbringen als seine Mitbewerber. Deshalb werde man nun einen Haustarifvertrag anstreben.«

Aus der Gewerkschaft ver.di wird berichtet, der Konzern wolle die Wochenarbeitszeit erhöhen, das Stellenpensum der Belegschaft aber gleich belassen. Unbezahlte Mehrarbeit wäre die Folge für die Beschäftigten. Das treibt die Arbeitnehmer/innen verständlicherweise auf die Straße. Vor diesem Hintergrund haben mehrere Tausend Mitarbeiter der Supermarktkette Real haben am Mittwoch bundesweit gegen Lohnkürzungen demonstriert. Die zentrale Kundgebung fand in Düsseldorf vor der Zentrale des Real-Mutterkonzerns Metro statt. Dort tagte gleichzeitig der Aufsichtsrat. Rund 25.000 Unterschriften zum Erhalt des Tarifvertrags seien an Vertreter des Metro-Managements übergeben worden.

Real ist im Juni auch deshalb aus dem Tarifvertrag ausgestiegen, um eine an sich fällige Lohnerhöhung für die Mitarbeiter zu vermeiden.
Johannes Supe illustriert die Vorgänge am Beispiel von Sigrid Maaß. Seit 1992 arbeitet sie beim Einzelhändler Real im Berliner Stadtteil Treptow:

»Ab dem heutigen Donnerstag hätte Sigrid Maaß mehr verdient. 2,5 Prozent mehr sah die Tariferhöhung im Einzelhandel noch in diesem Jahr vor, dazu zwei Prozent im kommenden. Für Maaß wären das immerhin 80 zusätzliche Euro im Monat gewesen. Die bekommt sie nun nicht. Für die Frau mit der jahrzehntelangen Erfahrung in der Branche bleibt es bei monatlich 1.900 Euro brutto. Dafür arbeitet sie jede Woche 32,5 Stunden. Mehr gesteht der Konzern kaum jemandem zu. Nur noch Führungskräfte und einige, die Kunden besonders beraten müssten, bekämen Vollzeitstellen, sagt Maaß. Viele ihrer Kolleginnen arbeiteten unter 30 Stunden. Es gebe gar interne Stellenausschreibungen für nur acht Stunden Arbeit in der Woche.«

Wenn Real mit der Tarifflucht erfolgreich sein sollte, dann hat ver.di allen Grund zur Sorge, denn dann sei absehbar, dass weitere Einzelhandelsketten nachziehen – etwa Kaufland oder Thalia.
Insgesamt gerät die Branche in gefährliches Gelände aus gewerkschaftlicher Sicht, denn der Flächentarifvertrag ist schon jetzt erheblich angeschlagen. Bundesweit unterliegen ihm nur etwa die Hälfte der Betriebe. In Berlin sind es nochmal weniger.

»Scheitere die Gewerkschaft bei Real, dann seien die Arbeitsbedingungen in der ganzen Branche in Gefahr«, so Erika Ritter, die Leiterin des ver.di-Fachbereichs Handel in Berlin-Brandenburg.

Vor diesem Hintergrund sind die Protestaktionen allerdings mit einem Fragzeichen zu versehen. Denn eine erfolgreiche Abwehr kann es nur geben, wenn die Mehrheit der Beschäftigten dabei ist. Angesichts dieser Zahlen kommen einem da schon Zweifel:

»Mehr als 4.000 Angestellte nahmen laut ver.di an der zentralen Streikkundgebung in Düsseldorf teil. Das wäre eine kleine Minderheit der Belegschaft, denn die Gewerkschaft spricht von rund 38.000 Beschäftigten, die für Real arbeiten. In der Hauptstadt fanden sich gar nur 80 Streikende aus allen dortigen Filialen ein.«

Das verweist wieder einmal auf ein zentrales Dilemma von ver.di gerade im Bereich vieler Dienstleistungen. Denn hier, gerade in den Branchen mit einem hohen Frauenanteil, ist der Organisationsgrad der Gewerkschaft überschaubar, um das höflich auszudrücken. Aber wenn keine ausreichende Zahl an Beschäftigten in der Gewerkschaft ist, kann diese noch so viel fordern, sie wird im Arbeitgeberlager nicht wirklich Eindruck machen können, fehlt ihr in letzter Konsequenz doch das Druckmittel, die Arbeitgeber mit einem wirksamen Arbeitskampf empfindlich treffen zu können.

Natürlich gäbe es auch die Option, dass die Politik tätig wird und beispielsweise eine Rückkehr zur Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrags ins Auge fasst. Das hätte sie angesichts der Zustände im Einzelhandel schon längst ernsthaft erwägen müssen. Warum das gar nicht so einfach, aber dennoch dringend notwendig ist, wurde in diesem Beitrag thematisiert: Jenseits der Einzelfälle: Die sich selbst beschleunigende Verwüstungsmechanik von abnehmender Tarifbindung im Einzelhandel, gnadenlosem Verdrängungswettbewerb und dem Hamsterrad der Personalkostenreduzierung. Plädoyer für eine Wiederherstellung der Ordnungs- und Schutzfunktion des Tarifsystems gegen die „Rutschbahn nach unten“ durch Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge.