Freitag, 18. September 2015

Zwischen Ad hocerie-Dominanz und Masterplan-Illusion: Die Flüchtlinge und der Arbeitsmarkt. Segeln auf Sicht und viele Köche rühren in der Suppe

Es kommen immer mehr Menschen als Flüchtlinge nach Deutschland. Darunter viele, die hier werden bleiben dürfen, beispielsweise Kriegsflüchtlinge aus Syrien. Aber auch immer noch viele, beispielsweise aus den Staaten des Westbalkans, die mit über 99 prozentiger Sicherheit keine Chance bekommen werden, hier Asyl zu erhalten. Viele von ihnen werden wieder zurück gehen oder auch abgeschoben, andere tauchen schlichtweg unter und verschwinden von der offiziellen Bildfläche, leben aber als Illegale unter uns. Und dann sind da auch noch die Flüchtlinge, die eigentlich zurück müssten, weil ihr Asylantrag abgelehnt worden ist, aber aus ganz unterschiedlichen Gründen als „Geduldete“ hier bleiben dürfen, da man sie nicht abschieben kann. Bereits diese noch vollkommen grobschlächtige Aufzählung verdeutlicht einerseits, dass es eben nicht „die“ Flüchtlinge gibt, sondern eine Vielzahl an unterschiedlichen aufenthaltsrechtlichen Konstellationen zu bedenken sind. Die andererseits auch deshalb von Bedeutung sind, weil mit ihnen ganz unterschiedliche Konsequenzen hinsichtlich der Möglichkeit, eine Arbeit oder Ausbildung aufzunehmen, verbunden sind.

Wer sich da vertiefend mit beschäftigen will, der kann sich beispielsweise die an Arbeitgeber gerichtete Informationsbroschüre Potenziale nutzen – geflüchtete Menschen beschäftigen der Bundesagentur für Arbeit heranziehen. Da wird darauf hingewiesen, dass es Asylsuchende mit einer Aufenthaltsgestattung, anerkannten Flüchtlinge mit Aufenthaltserlaubnis oder eben Geduldete gibt.
Nun wird nicht nur darüber diskutiert, wie viele Menschen eigentlich zu uns kommen werden – wer erinnert sich nicht daran, wie „beweglich“ diese Größe ist: Anfang des Jahres hieß es, es könnten 450.000 Menschen sein, die im laufenden Jahr kommen werden. Dann wurde bzw. musste die Prognose auf 800.000 angehoben werden und mittlerweile gibt es gar Stimmen aus der Bundesregierung, die eine Million Zuwanderer für möglich halten. Eines der zentralen Probleme in den vor uns liegenden Monaten der kalten Jahreszeit wird die existenzielle Frage sein, wie und wo man diese Menschen überhaupt halbwegs erträglich unterbringen kann. Darüber hinaus läuft aber eine Diskussionslinie parallel, die sich mit der Frage der Arbeitsmarktintegration der Flüchtlinge beschäftigt. Aber auch die steht vor einem vergleichbaren Problem wie bei der Unterbringungsfrage: Letztendlich ist es immer eine (quantitative) Frage von Angebot und Nachfrage und dann in einem zweiten Schritt eine (qualitative) Frage der Passungsfähigkeit von konkreten Stellen und den Einzelpersonen.

Die in den Medien geführte Debatte über die Arbeitsmarktperspektiven der Flüchtlinge ist vor diesem zweifachen Hintergrund auffällig unterkomplex. Während die eine Seite die Gefahren und Probleme herausstellt bis hin zu der Warnung, dass es eine gefährliche Mixtur werden würde, wenn sich »Dienstleistungsproletarier und prekär Wohlhabende ... in einem diffusen Misstrauen gegen das gesellschaftliche System in Deutschland verbünden«, so der Soziologe Heinz Bude in seinem Gastbeitrag für die FAZ unter der Überschrift Die Koalition der Angst, wird an anderer Stelle die Vision eines „neuen Wirtschaftswunders“ durch die vielen Zuwanderer in den Raum gestellt, so beispielsweise Daimler-Chef Zetsche hält neues Wirtschaftswunder für möglich.  In der Meldung wird er so zitiert:

»Mehr als 800.000 Menschen aufzunehmen, sei eine Herkulesaufgabe, sagte Zetsche ... „Aber im besten Fall kann es auch eine Grundlage für das nächste deutsche Wirtschaftswunder werden - so wie die Millionen von Gastarbeitern in den 50er und 60er Jahren ganz wesentlich zum Aufschwung der Bundesrepublik beigetragen haben.“ Natürlich sei nicht jeder Flüchtling ein brillanter Ingenieur, Mechaniker oder Unternehmer, sagte Zetsche. Aber wer sein komplettes Leben zurücklasse, sei hoch motiviert. „Genau solche Menschen suchen wir bei Mercedes und überall in unserem Land.“«

Sie steigern das Bruttosozialprodukt!, so die scheinbar folgerichtige Überschrift eines Artikels von Ingo Arzt in der taz, der allerdings sogleich anmerkt: »Doch der Ökonomisierung von Menschen sind Grenzen gesetzt.« Auch Kristiana Ludwig arguemntiert in die ökonomische Richtung. In ihrem Artikel in der Print-Ausgabe der Süddeutschen Zeitung vom 17.09.2015 unter der Überschrift „Flüchtlinge als Wirtschaftsmotor“ schreibt sie: »Zuwanderer helfen der Konjunktur – weil sie öffentliches Geld ausgeben.« Sie bezieht sich auf Ferdinand Fichtner, der die Abteilung Konjunkturpolitik am Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) leitet. »Wenn dieses Jahr zu Ende geht, werden voraussichtlich 800000 Menschen nach Deutschland gekommen sein. Zuwanderer, die Lebensmittel kaufen und zum Friseur gehen. Die Kleidung brauchen und Decken, Möbel und Mietwohnungen. Flüchtlinge bringen nicht viel mit, aber sie bekommen Geld vom Staat und werden es ausgeben – für deutsche Produkte. Die „konsumnahen Unternehmen“ werden am meisten von Flüchtlingen profitieren.« Das DIW schätzt, dass Bund, Länder und Kommunen im kommenden Jahr insgesamt 9,2 Milliarden Euro in die Unterbringung und Versorgung von Flüchtlingen investieren werden.



Und dann kommt vom DIW auch was zum hier besonders interessierenden Arbeitsmarkt:
Das DIW »schätzt, das dem Arbeitsmarkt in diesem Jahr zusätzlich 47.000 erwerbstätige Flüchtlinge zur Verfügung stehen werden. In den kommenden zwei Jahren seien es jeweils etwa 120.000. Zusammen mit den Zuwanderern aus den europäischen Nachbarstaaten glichen sie den demografischen Wandel aus.« Was sich hinter dieser Formulierung verbirgt, mag die folgende Abbildung verdeutlichen, die ich erstellt habe auf der Grundlage der jährlichen Arbeitsmarktberichte des IAB, in dem immer auch die Arbeitsangebotsseite behandelt wird, also wie viele Arbeitskräfte dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen, was nicht bedeutet, dass sie auch arbeiten (können).

Für das laufende Jahr schätzt das IAB, dass der Verlust an Arbeitsangebot durch die demografische Entwicklung, also dadurch, dass mehr Menschen altersbedingt den Arbeitsmarkt verlassen als „unten“ an jungen Erwerbspersonen nachkommen, vor allem durch den Migrationseffekt, also aus der Zuwanderung, kompensiert werden kann.

Aber das sind erst einmal nur nackte Zahlen über Größenordnungen. Angebot und Nachfrage müssen nicht immer zueinander passen und bekanntlich ist genau dieses Auseinanderfallen auf dem Arbeitsmarkt ein zentrales Problem. Mit Blick auf die Flüchtlinge wird das offensichtlich: Auch wenn man zeitweise den Eindruck hatte, es kommen nur noch hoch qualifizierte Kräfte nach Deutschland, vor allem aus Syrien, so muss man doch konstatieren, dass der syrische Neurochirurg eher die absolute Ausnahme ist.

Umso erstaunlicher bzw. entlarvender ist die Tatsache, dass Ökonomen in der Debatte gerne die eine oder die andere Seite der angeblichen Qualifikation heranziehen, um ganz andere, nämlich ihre Interessen unter das Volk zu bringen. Zwei Beispiele dazu:

Da gibt es zum einen die Vorreiter derjenigen, denen es vor allem darum geht, das Arbeitsangebot – das wie gezeigt allein aus demografischen Gründen stark rückläufig ist – wieder zu erhöhen, denn bekanntlich gilt die Regel, dass der Preis steigen müsste, wenn das Angebot zurück geht, die Nachfrage aber gleich bleibt oder gar steigen sollte. Der Preis auf dem Arbeitsmarkt sind die Löhne. Protagonist dieser Richtung ist Michael Hüther: »Der Direktor des Instituts der Deutschen Wirtschaft fordert die Politik auf, Flüchtlinge und Zuwanderer stärker nach den Bedürfnissen des Arbeitsmarktes zu steuern. Er hält jährlich 500.000 Zuwanderer für verkraftbar«, verkündet er in einem Interview. Und dann legt er richtig los: » Keiner muss wegen der Flüchtlinge um seinen Job fürchten – ... Sogar der Bundeshaushalt mit seiner schwarzen Null bietet derzeit genug Spielraum, um die Integration zu finanzieren.« Dann ist ja alles gut. Arbeitsmarktlich besonders relevant ist dann so eine Äußerung: »Viele Zuwanderer sind hoch qualifiziert. Zehn Prozent aller erwachsenen Zuwanderer haben einen Hochschulabschluss in einem MINT-Fach. In der Gesamtbevölkerung Deutschlands sind es nur sechs Prozent.« Punkt.

Nun wird sich der eine oder andere kritische Geist vielleicht trauen zu fragen: Woher weiß er das eigentlich? Ist es nicht vielmehr so, dass wir keine wirklich validen Erkenntnisse haben, wie der Qualifikationsstand der Flüchtlinge, die es zu uns geschafft haben, ist?

So ist das. Was wir derzeit haben sind alles nicht repräsentative Daten dazu. Das IAB der Bundesagentur für Arbeit hat die Qualifikationsstruktur der Flüchtlinge zusammengestellt. Hier die Ergebnisse, die sich auf Befragungsdaten des SOEP aus dem Jahr 2013 (!) und auf Asylbewerber und Flüchtlinge mit Aufenthaltserlaubnis, die sich schon relativ lange in Deutschland aufhalten, beziehen:
Hochschulabschluss 13%, mittlerer Bildungsabschluss 24%, kein Berufsabschluss 58%
Bei den erst vor kurzem eingereisten Flüchtlingen ist die Lage noch ungünstiger. Eine Befragung unter 20.000 Teilnehmern am ESF- geförderten „Bleiberechtsprogramm“ ergab folgendes:
24 Prozent haben eine berufliche Bildung abgeschlossen. 18 Prozent haben eine Hochschule besucht, unter ihnen haben 40 Prozent ihr Studium abgeschlossen. Rund zwei Drittel der Befragten verfügten über keine abgeschlossene Berufsausbildung. Eine Befragung unter den Teilnehmern an Early Intervention kam zu ähnlichen Ergebnissen (vgl. IAB: Asyl- und Flüchtlingsmigration in die EU und nach Deutschland. Aktuelle Berichte 8/2015, Nürnberg 2015). So viel dazu.

Und auch andere Interessenvertreter rühren fleißig in der Suppe. So die Ökonomen, die lange gegen einen gesetzlichen Mindestlohn  gewettert haben und jetzt – bei ausbleibenden Katastrophenmeldungen vom Arbeitsmarkt, die sie vorhergesagt haben (vgl. dazu meinen Beitrag Es tut doch gar nicht weh ... Gewerkschaften zwischenbilanzieren den - natürlich erfolgreichen - Mindestlohn und die Gegenseite greift auf Flüchtlinge zurück, um es noch mal zu versuchen vom 15. September 2015) – versuchen, über die Flüchtlinge den zum Leben erweckten gesetzlichen Mindestlohn  wieder zu kippen. Protagonist dieser Seite ist Hans-Werner Sinn. In einem Artikel mit der knackigen Überschrift Ohne Abstriche beim Mindestlohn finden viele Zuwanderer keine Arbeit doziert er: »Viele Migranten sind schlecht qualifiziert und haben Sprachprobleme. Damit sie trotzdem eine Arbeit finden, bedarf es einer stärkeren Lohnspreizung in Deutschland.« Ja was denn nun, wird sich der eine oder andere an dieser Stelle völlig zu Recht fragen. Und man wird sich daran erinnern, was Zetsche und Hüther gesagt haben, wenn man diese Zeilen liest:

»Die Menschen, die kommen, sind jung und arbeitswillig, aber im Durchschnitt nur wenig gebildet. So ist der Anteil der Analphabeten unter ihnen sehr viel höher als unter der in Deutschland ansässigen Bevölkerung. Deutschland wird viel Geld aufwenden müssen, um die Flüchtlinge auszubilden und einzugliedern. Daher ist die Bedeutung, die die Zuwanderer für die deutsche Wirtschaft haben, nicht vergleichbar mit der Rolle der Flüchtlinge nach dem Zweiten Weltkrieg, die dank ihres Könnens damals ganz erheblich zum wirtschaftlichen Aufstieg Deutschlands beitrugen.«

Und es ist für den Mainstream der deutschen „Volkswirtschaftslehre“ nicht verwunderlich, dass sich dann bei der Legitimation der eigentlichen Zielsetzung, also den Mindestlohn wieder aufzubohren, die betriebswirtschaftliche Denke Bahn bricht:

»Um die neuen Arbeitskräfte in den regulären Arbeitsmarkt zu integrieren, wird man den gesetzlichen Mindestlohn senken müssen, denn mehr Beschäftigung für gering Qualifizierte gibt es unter sonst gleichen Bedingungen nur zu niedrigerem Lohn. Nur bei einem niedrigeren Lohn rutschen arbeitsintensive Geschäftsmodelle über die Rentabilitätsschwelle und finden sich Unternehmer, die bereit sind, dafür ihr Geld einzusetzen.«

Die gleiche Argumentation haben wir im Vorfeld der Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes hören müssen.

Das führt uns nicht wirklich weiter. In der Realität sind wir hingegen mit zahlreichen Schwierigkeiten konfrontiert, die sich daraus ergeben, dass die gewachsenen Regelsysteme  enorme Probleme haben, mit dieser Ausnahmesituation klar zu kommen. Zahlreiche Beispiele findet man in solchen Artikeln: Heute Flüchtling, morgen Arbeitsloser? von Kolja Rudzio  So schwer ist es, Jobs für Flüchtlinge zu schaffen von Timo Stukenberg oder Flüchtlinge einstellen ist kompliziert von Stefan Sauer.

Fazit: Wenn es einem um wirkliche Arbeitsmarktintegration geht, dann muss man aktuell klare Prioritäten setzen – und bei denen steht an erster Stelle der Aspekt der Sprach- und Integrationskurse. Und die so schnell wir möglich. Auch wenn davon möglicherweise Flüchtlinge profitieren, die nicht hier werden bleiben können. Egal. Aber die Sprachkenntnisse – in Verbindung mit einer Einführung und Heranführung an unser Gesellschaftssystem – sind das A und O einer Gelingensmöglichkeit von echter Arbeitsmarktintegration. Dazu müsste man jetzt sehr viel Geld in die Hand nehmen – aber wenn man überlegt, was die Betroffenen später an Steuern und Sozialversicherungsbeiträge abdrücken, wenn sie eine Ausbildung und eine Arbeit bekommen, dann ist das eine richtig spannende Investition. Von oben betrachtet, nicht vom Einzelfall. Zugleich sind diese Kompetenzen, die man erst einmal schaffen muss, unabdingbare Voraussetzung für eine Integration in Berufsausbildung, gerade im Handwerk und der klassischen Facharbeit in der Industrie. Und die muss man ebenfalls fördern, beispielsweise durch das 3+2-Modell bei den geduldeten Flüchtlingen, also man garantiert den Menschen, die eine Ausbildung machen, dass sie diese absolvieren können und nicht abgeschoben werden. Und wenn sie die bestanden haben, dann können sie noch (mindestens) zwei Jahre arbeiten. Das alles wird aber erst einmal erhebliche Investitionen erforderlich machen, man stelle sich einfach mal mit Blick auf die Sprache vor, wir würden in den arabischen Raum flüchten müssen und sollen nun die dortige Sprache erlernen. So geht es gerade vielen Flüchtlingen. Auch den besser Qualifizierten.

Aber da beißt die Maus keinen Faden ab – man muss darauf hinweisen, dass sich die Konkurrenzsituation vor allem in den unteren Etagen des Arbeitsmarktes in der vor uns liegenden Zeit massiv verschärfen wird. Und nicht nur das: Wir werden einen deutlichen Anstieg der Arbeitslosigkeit unter den Flüchtlingen erleben. Auch der BA-Chef Frank-Jürgen Weise, der heute „in Personalunion“ auch noch Präsident des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge geworden ist (vgl. dazu meine kritischen Anmerkungen in dem Beitrag Aber selbst einer, der Herkules wäre, kann nicht zugleich noch Odysseus sein. In Deutschland wird gerade genau das mal ausprobiert auf der Facebook-Seite dieses Blogs), sieht das, was auf uns zukommt: Vielen Flüchtlingen droht Arbeitslosigkeit. Daraus:

»Für das laufende Jahr hält Weise an der Prognose von knapp 2,8 Millionen Arbeitslosen im Jahresdurchschnitt fest, da die Konjunktur gut sei und viele Flüchtlinge wegen des Registrierungsprozesses in der Arbeitsmarkt-Statistik schlicht noch nicht auftauchten. 2015 verzeichnet die Arbeitsagentur bislang rund 380 000 neue Arbeitssuchende aus den klassischen Herkunftsländern Afrikas oder des Nahen Ostens. Genauso viele Menschen aus diesen Regionen seien schon in Deutschland sozialversichert beschäftigt ... Eine ... Hürde ist die geringe Qualifikation vieler Flüchtlinge. Laut erster Daten der Agentur dürfte mehr als die Hälfte keine abgeschlossene Berufsausbildung haben ...  Selbst bei vorhandener Qualifikation stehen einer erfolgreichen Vermittlung an Arbeitgeber häufig noch mangelnde Deutschkenntnisse im Weg, sagt Weise ... „Die vielen Geringqualifizierten bringen mehr Druck in die Arbeitswelt“, schätzt Weise.«

 Mehr Druck in die Arbeitswelt – das lassen wir mal so im Raum stehen.