Montag, 21. September 2015

„Stärke. Vielfalt. Zukunft“? Der Bundeskongress 2015 der Gewerkschaft Verdi. Zur Notwendigkeit einer Diskussion über Autosuggestion, über die Frage nach dem, der erneut den Chef machen wird und natürlich: Wie weiter an der Dienstleistungsfront?


Nach Leipzig ist sogar die Bundeskanzlerin angereist, um der zweitgrößten deutschen Gewerkschaft, der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft Verdi, ihre Aufwartung zu machen. Sie sprach zu den Delegierten des Bundeskongresses 2015, der dort vom 20. bis zum 26. September stattfinden wird. Auf der Webseite der Gewerkschaft kann man dazu lesen: »Unter dem Motto „Stärke, Vielfalt, Zukunft“ bestimmen eine Woche lang 1.009 Verdi-Delegierte in Leipzig die politische Ausrichtung von Verdi für die kommenden vier Jahre. Weit über 1.000 Anträge müssen beraten werden – von der Gesellschaftspolitik bis zur Berufspolitik, von der Friedenspolitik über Wirtschaftspolitik, TTIP und Migrationspolitik bis zur Tarifpolitik.«

Mit der „Stärke“ ist es allerdings so eine Sache. Keine andere Gewerkschaft scheint so viel Stärke auszustrahlen wie Verdi, wenn man das misst an der Häufigkeit von Arbeitskämpfen. Die meisten Streiks – neun von zehn - gehen auf das Konto dieser Gewerkschaft und wir haben gerade Wochen und Monate hinter uns, in denen mehrere Verdi-Streiks parallel gelaufen sind. Wir reden also über die „Kampftruppe“ der Arbeiterbewegung und angesichts der Schlagzahl erblasst sogar der Nimbus einer IG Metall – die übrigens, von eher folkloristisch angelegten Warnstreiks in Tarifrunden abgesehen, in den vergangenen Jahren nicht mehr mit einem großen Arbeitskampf hervorgetreten ist.

Wenn man aber „Stärke“ daran misst, was am Ende rausgekommen ist, dann sieht es schon ganz anders aus. Dann würde eine Bewertung die IG Metall oder auch die IG BCE deutlich höher ranken müssen als Verdi. Man kann und muss es sogar zuspitzen: Am aktuellen Rand sieht es richtig übel aus. Im laufenden Jahr 2015 gab es bereits 1,5 Mio. Streiktage und im Reich des Frank Bsirske ging die Streiksonne nicht unter. Besonders in Erinnerung geblieben sind die großen Streiks bei der Deutschen Post und im Sozial- und Erziehungsdienst (fast überall verkürzend als Kita-Streik tituliert), dann ein lokaler, aber von seiner Bedeutung weit über die Berliner Charité hinausweisender Arbeitskampf des Pflegepersonals für mehr Personal (vgl. dazu den Beitrag Nicht mehr Geld, sondern mehr Leute: Der unbefristete Pflegestreik an der Charité in Berlin wird ausgesetzt. Eckpunkte für eine zukünftige Personalausstattung vereinbart vom 1. Juli 2015) und die als never-ending-story daherkommende Auseinandersetzung bei Amazon, die demnächst in eine neue Runde gehen wird. 

Die Ausstände bei der Charité oder der Postbank führten immerhin zu Ergebnissen, mit denen die meisten Beschäftigten zufrieden waren. Auch im öffentlichen Dienst und im Sicherheitsgewerbe wurden ansehnliche Abschlüsse erreicht. Aber man kann es drehen und wenden wie man will: Die beiden großen unbefristet angelegten Arbeitskämpfe dieses Jahres bei der Deutschen Post sowie den Sozial- und Erziehungsdiensten sind vom Ergebnis her gesehen ein Desaster: »In beiden Fällen hat die Führung ihre Mitglieder in den unbefristeten Streik geführt – und ist dann jeweils zum völligen Unverständnis ihrer kämpferischeren Basis vor den Arbeitgebern eingeknickt«, so Pascal Beucker und Anja Krüger in ihrem Artikel Umsonst gestreikt. Diese Ergebnisse müssen auch vor dem Hintergrund gesehen werden, dass man tief in die Streikkasse gegriffen hat – von weit mehr als 100 Millionen Euro für den Post- und „Kita“Streik ist die Rede.

Zum Post-Streik schreiben sie: »Vom 11. Juni bis zum 6. Juli hatten die Postbeschäftigten gestreikt – ihr erster unbefristeter Ausstand seit mehr als 20 Jahren. Sie wehrten sich dagegen, dass die Paketzustellung in deutlich schlechter zahlende Tochtergesellschaften ausgesourct werden soll, in die DHL Delivery GmbHs. Die ausgelagerten Beschäftigten sollten unters Dach des Haustarifvertrags zurück ... Man erreichte allerdings: nichts.« Also nichts hinsichtlich des eigentlich zentralen Ziels, das Outsourcing der Paketzustellung in die Billigtochter zu verhindern. Entsprechend kritisch fiel mein Beitrag dazu aus: Das Ende des Post-Streiks: Ein "umfassendes Sicherungspaket" (für die, die drin sind) und ein verlorener Kampf gegen die Billig-Post vom 6. Juli 2015. Man muss diese krachende Niederlage auch vor dem Hintergrund sehen, dass Verdi gerade in diesem Bereich (noch) einen sehr hohen Organisationsgrad hat.

Und mindestens vergleichbar desaströs ist der vorläufige Ausgang des Streiks im Sozial- und Erziehungsdienst. Da war zum einen im Juni der Schlichtungsspruch – dazu der Beitrag Wenn man irgendwo reingeht, sollte man vorher wissen, wie man wieder rauskommt. Das Schlichtungsergebnis im Tarifstreit der Sozial- und Erziehungsdienste - ein echtes Dilemma für die Gewerkschaften vom 24. Juni 2015. Die bodenlose Enttäuschung bei den - mit einer von der Gewerkschaftsspitze hinsichtlich substanzieller Veränderungen im Tarifgefüge vorher auch transportierten hohen Erwartungshaltung motivierten - Streikenden führte dann zu einem Doppel-Schlag für die Verdi-Spitze, denn die Mitglieder haben den Schlichtungsspruch, der ja mit Zustimmung der gewerkschaftlichen Verhandlungsführer zustande gekommen ist, in einer Mitgliederbefragung schlichtweg zurückgegeben. Mit der Folge, dass Verdi nun wieder gezwungen sein wird, unter noch weitaus schlechteren Bedingungen als im Sommer in Verhandlungen und damit verbunden Arbeitskampfmaßnahmen einzusteigen. Wohl wissend, dass sich die Gegenseite, also die kommunalen Arbeitgeber, in aller Ruhe auf das Schlichtungsergebnis zurückziehen können, denn auch wenn jetzt erneut gestreikt wird, dann sicher nicht mehr in der Form wie vor der Schlichtung und sicher auch nicht mehr mit der Sympathiewelle, die es in der ersten Phase zumindest in der nicht direkt vom Streik betroffenen Öffentlichkeit gegeben hat. Auch wenn man den Fachkräften wirklich alles Gute wünscht und ihnen einen Erfolg wirklich gönnen würde – von außen betrachtet scheint das ein von vornherein verlorener Krieg zu sein, wenn man jetzt nochmals die Leute in einen Arbeitskampf jagt.

Man muss es so sagen – der Ausgang der Mitgliederbefragung zum Schlichtungsspruch, dessen Annahme die Gewerkschaftsspitze empfohlen hat, ist vor diesem komplexen Hintergrund ein organisationspolitischer Super-Gau für Verdi. Anders gesprochen: Was man jetzt auch macht, es kann nur falsch sein, entweder enttäuscht man die Mitglieder oder man geht (ohne wirkliche Motivation auf der Fürhunsgebene) in einen erneuten Arbeitskampf, der dann den Mitgliedern soweit man das sehen kann eine veritable Niederlage bereiten wird. Verdi kann nur froh sein, dass man hinsichtlich des bereits erwähnten Streiks bei der Deutschen Post die Mitglieder gar nicht erst hat abstimmmen lassen über das, was da (nicht) raus gekommen ist.

Bereits am 8. August 2015 habe ich ein unangenehmes, aber nun mal notwendiges Thema in meinem Blog-Beitrag Die Gewerkschaftsspitze allein zu Haus? Das Ergebnis der Mitgliederbefragung zum Schlichtungsergebnis im Streik der Sozial- und Erziehungsdienste und das "Fliegenfänger"-Problem der Verdi-Führungsebene angesprochen:

»Was folgt daraus? Zum einen sicherlich die Notwendigkeit einer gewerkschaftsinternen offenen und kritischen Analyse der offensichtlichen Fehler in den vergangenen Monaten. Zum anderen - auch wenn das jetzt sicher manche nicht gerne hören möchten - sollte sich jede echte politische Führungskraft immer fragen, wann es an der Zeit ist, Verantwortung für schlechte Ergebnisse und Niederlagen zu übernehmen. Allerdings beabsichtigt Frank Bisirske, auf dem demnächst anstehenden Gewerkschaftstag von Verdi erneut als Vorsitzender zu kandidieren und sich wählen zu lassen für eine weitere Amtszeit. Unabhängig von der hier nur am Rande angemerkten Tatsache, dass er dann das Renteneintrittsalter, für das Verdi ansonsten so vehement kämpft, überschreiten wird bei einer Wiederwahl - man muss schon die Frage stellen, warum nicht wenigstens einmal in Betracht gezogen wird, dass es nach zwei derart schlechten Ergebnissen von Arbeitskämpfen gute Gründe geben könnte, den Vorsitzenden dahin zu schicken, wohin viele Arbeitnehmer gerne möchten: in den Ruhestand.«

Man könnte die zweite der Schlussfolgerungen, also die Verantwortungsübernahme seitens des Vorsitzenden nun einfach beantworten mit einem Blick auf das Personaltableau der Gewerkschaft: Pascal Beucker hat das sehr kritisch unter der Überschrift Ausgelaugte Gewerkschaft auf den Punkt gebracht: »Die aktuelle Verdi-Führung gibt eine schlechte Figur ab – konzeptionslos und müde. Ein Neuanfang ist jedoch nicht in Sicht.« Und weiter schreibt er:

»Das Motto des kommenden Verdi-Bundeskongresses soll Optimismus verbreiten: „Stärke. Vielfalt. Zukunft.“ Ein Fall von Autosuggestion ... Um es deutlicher zu formulieren: Verdi befindet sich in einer veritablen Krise. Das Führungspersonal um den Dauervorsitzenden Frank Bsirske, der seit der Gründung von Verdi 2001 an der Spitze steht, und seine beiden StellvertreterInnen Andrea Kocsis und Frank Werneke wirkt konzeptionslos und ausgelaugt. Doch hoffnungsvolle Nachwuchskräfte, die an ihre Stelle treten könnten, sind nicht in Sicht. Alle drei müssen nicht mal mit einer Gegenkandidatur rechnen.«

Insofern wird es a) zu einer Wiederwahl von Frank Bsirske kommen, aber b) gibt es dennoch mit Blick auf das gewerkschaftliche Ganze gute Gründe, wenigstens über die nicht-realisierbare, aber im Raum stehende Forderung nach Übernahme der politischen Verantwortung zu diskutieren, um c) dann aber den Blick zu weiten und die besonderen Herausforderungen und strukturellen Probleme, denen sich Verdi ausgesetzt sind, nicht aus den Augen zu verlieren und sie in den Mittelpunkt der eigentlichen gewerkschaftspolitischen Diskussion zu stellen.

Interessant ist ein Blick auf die Pressestimmen zum Verdi-Bundeskongress, denn auch hier geht es immer wieder um den Vorsitzenden. Noch nie hatte Verdi einen anderen Vorsitzenden als Frank Bsirske. Ein Wahlergebnis unter 90 Prozent gilt trotz aller Unruhe auch innerhalb der Gewerkschaft unwahrscheinlich. Es wäre Bsirskes fünfte Amtszeit, so Pascal Beucker und Anja Krüger in ihrem Artikel Umsonst gestreikt. Gerade Beucker hatte schon in der Vergangenheit kritisch berichtet, offenbar mit Konsequenzen. Nach einer Aufzählung der zahlreichen Baustellen berichten sie: »Wie das alles wohl Verdi-Chef Bsirke sieht? Mehrere Monate bemühte sich die taz um ein Interview. „Ich habe nach wie vor keinen Terminvorschlag“, teilte der Leiter der Verdi-Pressestelle am 1. September mit.«

Alfons Frese weist in seinem Artikel Der ewige Vorsitzende auf einen pikanten Nebensapekt der anstehenden Wiederwahl hin:

»Der Vorsitzende wird am Ende der kommenden Wahlperiode 67 Jahre alt sein; gegen die Rente mit 67 haben die Gewerkschaften gewettert wie sonst nur gegen Leiharbeit. Und Ursula Engelen-Kefer war erst 62, als sie einst von Bsirske und anderen Gewerkschaftsfürsten mit dem Hinweis auf das Alter aus der DGB-Spitze entfernt wurde. Aber Bsirske wird eben nicht alt.«

Freses Auffassung nach hat „der Herbst des Patriarchen längst begonnen“ und zitiert ungenannte Arbeitgeber mit der Feststellung: „Fehleinschätzungen sind zu Bsirskes Markenzeichen geworden“. Bsirske »hat es indes nicht vermocht, in den vergangenen Jahren einen potenziellen Nachfolger neben sich groß werden zu lassen« und Frese stellt die Frage: » Aber wo ist die Strategie? Was hat er noch vor? Diese Fragen sollte Bsirske in Leipzig beantworten können.«

Auch die Artikel-Überschrift von Stefan Sauer - Verdis Abwehrkämpfe – klingt defensiv. Angesichts der jüngsten Misserfolge wirke Verdi „wie ein manövrierunfähiger Tanker auf hoher See“, so Sauer hier allerdings das arbeitgeberfinanzierte Institut der deutschen Wirtschaft (IW) Köln zitierend, um dann gleich ausgleichend eine andere Stimme heranzuziehen: »Weniger interessengebundene Wissenschaftler gelangen zu weniger negativen Einschätzungen. „Eine Gewerkschaft, die viel streikt, verbucht naturgemäß nicht nur Siege. Sie muss auch Niederlagen einstecken“, sagt Britta Rehder, die an der Uni Bochum Arbeits- und Organisationsforschung lehrt.« Ansonsten zählt auch er die zahlreichen offenen Baustellen auf und enthält sich einer weiteren Bewertung.

Ganz anders hingegen Stefan von Borstel, der seinen Artikel markig überschrieben hat mit Frank Bsirske hat Ver.di in den Sand gesetzt. Seine Wahrnehmung der Szenerie: »Ver.di-Meister Bsirske steht auf einmal als banger Zauberlehrling da, der die Geister, die er rief, nicht mehr bändigen kann.« Borstel erinnert an die unbestreitbaren Leistungen des Vorsitzenden, um dann ein „Aber“ nachzuschieben: »Bis heute ist es ihm gelungen, seine bunte Truppe aus mehr als 1000 Berufen, vom Schleusenwärter über die Krankenschwester bis zur Verkäuferin, weitgehend zusammenzuhalten ... Doch Ver.di ist ein schrumpfender Riese, rund ein Drittel der Mitglieder haben sich seit der Fusion verabschiedet.« Es wird schneller gestreikt – auch um Mitglieder zu werben – und die Streiks werden auch rücksichtsloser, so die Wahrnehmung von Borstel, der auf eine neue und zunehmend konfliktträchtige Baustelle hinweist: »... auch zwischen den Industriegewerkschaften im DGB und Ver.di knirscht es gewaltig. Zunehmend kommen sich die Gewerkschaften ins Gehege, wer welche Arbeitnehmer in welchen Betrieben organisieren darf. Die Grenzen zwischen den Wirtschaftszweigen verschwimmen, Produktion und Dienstleistung wachsen zusammen. Die mächtige IG Metall beansprucht die komplette "Wertschöpfungskette" für sich.«

Auch wenn man in den Medien natürlich immer gerne zur Personalisierung neigt, was ja immer auch ein Mittel der Vereinfachung ist – Stefan von Borstel hat in seinem Artikel selbst auf strukturelle Dilemmata hingewiesen mit denen die Gewerkschaft Verdi konfrontiert ist, so die Abgrenzungsfragen zu den Industriegewerkschaften oder diese Aspekte: »Liberalisierung und Privatisierung haben die Gewerkschaft in ihren Kernbereichen getroffen: im Öffentlichen Dienst, der Energiewirtschaft und bei den Ex-Staatsmonopolisten Post und Telekom. Vom wachsenden Dienstleistungssektor hat Ver.di indes kaum profitiert: In Callcentern oder bei Zeitarbeitern gelingt es nicht, viele neue Mitglieder zu werben.«

An dieser Stelle kann man auch Alfons Frese mit seinem Artikel Der ewige Vorsitzende nochmals aufrufen:

»Tatsächlich hat sich Verdi, 2001 als vereinte Dienstleistungsgewerkschaft durch den Zusammenschluss von ÖTV, HBV, IG Medien, Postgewerkschaft und DAG entstanden, vor allem quantitativ verändert: Es gibt heute rund 800 000 Mitglieder weniger als damals. Der Schwund hat auch strukturelle Ursachen. Im Einzelhandel stehen zum Beispiel die Namen Schlecker und Praktiker für Pleiten und massenhaften Arbeitsplatzabbau; Privatisierungen haben dem öffentlichen Dienst, der Telekom und der Post zu schaffen gemacht, die goldenen Jahre in der Finanzbranche sind vorbei, und in Wachstumsbranchen wie der Pflege bekommt Verdi auch deshalb kein Bein an die Erde, weil die keine gewerkschaftliche Tradition haben. Richtig ist aber auch: Der enorme Zuwachs an sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung in den vergangenen Jahren fand vor allem im Dienstleistungsbereich statt. Und offensichtlich bekommt Verdi diese Leute nicht annähernd organisiert.«
Hinzu kommen weitere organisationspolitische Besonderheiten, beispielsweise die – im Vergleich zu anderen, „homogeneren“, aber auch zentralistischer ausgerichteten Gewerkschaften wie die IG Metall – überaus heterogene Mitgliederschaft wie auch Funktionärsebene, wo es einen nicht geringen Einfluss linker Kräfte gibt, die sicher auch mit dazu beitragen, dass Verdi neben engen tarifpolitischen Zielen weitere, darüber hinausreichende Anliegen meint, mit Arbeitskampfmaßnahmen adressieren zu können bzw. zu müssen.

Wie sieht die „Gegenseite“, also das Arbeitgeberlager, die Situation bei Verdi. Hagen Lesch, der Gewerkschaftsexperte beim Arbeitgeber-Institut der deutschen Wirtschaft (IW), bringt es in seinem Beitrag auf den Punkt: In Seenot. Verdi vermittelt den Eindruck eines Tankers in Seenot. Natürlich leht auch Lesch den Finger auf die offene Wunde: »Zwischen 2011 und 2014 führte die Organisation nach eigenen Angaben 642 Arbeitskämpfe. In diesem Jahr sollen laut Verdi-Chef Frank Bsirske bereits 1,5 Millionen Arbeitstage durch Verdi-Streiks ausgefallen sein. Nach IW-Rechnungen gingen seit 2006 mehr als drei Viertel aller in Deutschland amtlich registrierten Ausfalltage auf das Konto von Verdi. Gebracht haben die Streiktage aber eher wenig.« Seine Empfehlung an den Gewerkschaftskongress: »Mangelhaftes Erwartungsmanagement und fehlende Ausstiegsstrategien bei erfolglosen Endlosstreiks – darüber sollten die Delegierten beim Bundeskongress also selbstkritisch diskutieren.«

Auf die innerorganisatorischen Besonderheiten bei Verdi geht auch Dietrich Creutzburg in seinem Kommentar „Tarifpolitik oder Klassenkampf“ in der Print-Ausgabe der FAZ vom 18.09.2015 ein:

»Verdi ist vielmehr eine in jeder Hinsicht schwierige Organisation. Das liegt an einer Struktur, die den Bundesvorstand oft wie ein hilfloses Koordinationsbüro eigensinniger Landesbezirke und Fachbereiche erscheinen lässt. Darunter blüht ein gewerkschaftliches Selbstverständnis, das Träume von Klassenkampf und Systemwechsel über die zielgerichtete Analyse eigener tarifpolitischer Versäumnisse stellt. Um noch einen politischen Vergleich zu bemühen: Die 2001 durch eine Fünferfusion gegründete Gewerkschaft Verdi funktioniert in der Praxis etwa so, wie man sich eine Partei vorstellen könnte, die durch gleichberechtigten Zusammenschluss von SPD, Grünen und Linken entsteht ... Es ist nicht zufällig das Bild der Linkspartei – vor allem jener Strömungen dort, die kein Interesse an politischer Verantwortung haben, weil sich die eigene Weltsicht nur in der Opposition aufrechterhalten lässt. Verdi ist mittlerweile in etlichen Gliederungen eine Spielwiese für solche politischen Funktionäre.«

Aber Creutzburg sieht nicht nur diese innere Dimension der Gewerkschaft: 

»Es gibt viele Gründe dafür, dass die Tariflandschaft gerade um Verdi herum zunehmend einem Scherbenhaufen gleicht. Natürlich finden sich vor allem dort kleinteilige Dienstleistungsbranchen, die tarifpolitisch viel schwerer zu bearbeiten sind als die Autoindustrie für die IG Metall. Bedenklich ist aber, dass sich bei Verdi auch in früher soliden Tarifbereichen die Unfälle häufen. Dazu zählt, dass der Flächentarif im Einzelhandel zerfällt. Große Warenhausgruppen, Globus und Real, treten aus dem Tarifvertrag aus, weil ihnen seine ganze veraltete Struktur nicht mehr passt. Und wie sollte eine Einigung auf moderne Regeln fürs Internetzeitalter gelingen, wenn Verdi vor allem an den Ladenschluss denkt?«

Und dennoch – eine Alternative zu Bsirske sieht er nicht: »Tatsächlich spricht einiges dafür, dass Verdi im Chaos versinken würde, stünde er nicht mehr zur Verfügung.«

Vor diesem Hintergrund ist es müßig, sich weiter an nicht-auflösbaren Personalfragen abzuarbeiten. Die richtig große Baustelle wird sein, mit welchen Strategien es der Gewerkschaft gelingen kann, ihre angesichts der zunehmenden Dienstleistungsbeschäftigung so wichtige Ordnungsfunktion auf dem Arbeitsmarkt auch überhaupt ausüben zu können. Dabei geht es angesichts der enormen Breite der Branchen und Berufsfelder um schwierige Fragen. Auch neue Prioritäten müssen gesetzt werden, die zugleich bei einem Blick auf die innere Konfiguration die herkulische Aufgabe verdeutlichen, vor der Verdi steht – so beispielsweise die anstehende Organisation der Pflegekräfte und irgendwann einmal, die Betonung liegt angesichts der realen Verhältnisse und der damit verbundenen strukturelle Besonderheiten auf irgendwann einmal, auch eine Konfrontation im Pflegebereich, wo der Deckel nur aufgrund der individuellen Atomisierung der Pflegekräfte derzeit noch mehr oder weniger auf dem Topf gehalten werden kann. Gerade mit Blick auf den Pflegesektor war und ist ja auch der Ausgang des Streiks im Sozial- und Erziehungsdienst von so entscheidender strategischer Bedeutung, denn die Beschäftigten in den Kitas und in den Behinderteneinrichtungen und in den Jugendämtern stehen vor vergleichbaren strukturellen Hemmnissen, was einen Arbeitskampf angeht, wie die Pflegekräfte. Der kurze Ausflug eines Teils der Pflegekräfte an der Berliner Charité in einen unbefristeten Arbeitskampf wird sich möglicherweise rückblickend als ein wichtiges erstes Pflänzchen einer notwendigen Entwicklung erweisen.

Aber nach allen Erfahrungen gerade der letzten Zeit sollte Verdi sehr sorgfältig und überlegt umgehen mit der Ressource Arbeitskampf, diese einbetten in eine realistische Strategie und die eigenen Leute nicht in Schlachten schicken, deren Anlass man zwar gut nachvollziehen kann, deren Ausgang aber aufgrund schlechter Rahmenbedingungen des Feldes vorherbestimmt ist in Richtung Niederlage. Das kann sich mal ergeben, ohne Frage, aber man sollte das nicht als Dauerzustand perpetuieren.

Verdi wird sich in Leipzig selbst feiern dafür, dass man den gesetzlichen Mindestlohn durchbekommen hat. Aber aus tarifpolitischer Sicht wird eines der großen zukünftigen Anliegen sein müssen, wie man bei der Frage der Allgemeinverbindlicherklärung von Tarifverträgen weiter kommt, deren Erleichterung zwar im Koalitionsvertrag zwischen Union und SPD vereinbart worden ist, was allerdings immer noch kaum bis gar nicht wirklich mit Leben gefüllt wird. Vgl. dazu ausführlicher meinen Beitrag Jenseits der Einzelfälle: Die sich selbst beschleunigende Verwüstungsmechanik von abnehmender Tarifbindung im Einzelhandel, gnadenlosem Verdrängungswettbewerb und dem Hamsterrad der Personalkostenreduzierung. Plädoyer für eine Wiederherstellung der Ordnungs- und Schutzfunktion des Tarifsystems gegen die „Rutschbahn nach unten“ durch Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge vom 5. August 2015. 

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