Dienstag, 25. August 2015

Die Rente könnte sicher sein, auch das Rentenniveau, wenn ... Gestaltungsvorschläge angesichts der Baufälligkeit des „Drei-Säulen-Modells“ der Alterssicherung in Deutschland


Bekanntlich fällt es oftmals leichter, eine passgenaue und ernüchternde Analyse sozialpolitischer Zusammenhänge vorzulegen, als Lösungsvorschläge zu präsentieren oder wenigstens zur Diskussion zu stellen. Dieser Aspekt wird manchem durch den Kopf gegangen sein bei der Auseinandersetzung mit einer neuen Studie, die aufzeigen kann, dass das „Drei-Säulen-System“ der Alterssicherung in Deutschland erhebliche Baumängel aufweist: Ingo Schäfer zeigt in seiner Veröffentlichung Die Illusion von der Lebensstandardsicherung. Eine Analyse der Leistungsfähigkeit des „Drei-Säulen-Modells“: „Auch wer heute über alle drei Wege spart, wird nicht an das einstige Leistungsniveau der gesetzlichen Rente herankommen." Das Hauptproblem: Die Renten aus allen drei Säulen steigen nicht so stark wie die Löhne und verlieren dadurch während des Bezugs massiv an Wert. Höchstens zum Zeitpunkt des Renteneintritts kann eine idealtypische Umsetzung des "Drei-Säulen-Modells" wie von der Bundesregierung behauptet die "Lebensstandardsicherung", also das Verhältnis zwischen der Rente und dem versicherten Einkommen (auch "Versorgungsniveau" genannt), zusagen - aber dann hört ja die Geschichte nicht auf und das Problem breitet sich aus: Über die Jahre wird die Rente gemessen an den Löhnen erheblich an Wert verlieren und das Verhältnis ständig schlechter, so Ingo Schäfer (vgl. hierzu den Beitrag Die Rente ist sicher. Immer weniger wert. Auch wenn man sich idealtypisch verhält und alle drei Säulen bedient vom 22.08.2015).

Aber was sollte und könnte man tun, wenn man denn wollte? Dazu hat nun der Rentenexperte Johannes Steffen eine interessante Veröffentlichung vorgelegt: Für eine Rente mit Niveau. Zum Diskurs um das Niveau der Renten und das Rentenniveau, so hat er seine Ausarbeitung überschrieben. Darin findet man nicht nur eine prägnante Zusammenfassung der rentenpolitischen Entwicklung vor allem seit den „Rentenreformen“ der damaligen rot-grünen Bundesregierung Anfang des Jahrtausends, sondern er zeigt Wege auf, die man gehen könnte, um das Kardinalproblem des gesetzlichen Rentenversicherungssystems, also das sinkende Rentenniveau, in den Griff zu bekommen. Seine besonders hervorzuhebende Leistung besteht darin, dass die damals politisch beschlossene Absenkung des allgemeinen Rentenniveaus, die seitdem gleichsam einen unantastbaren Charakter zugeschrieben bekommen hat, nicht nur infrage gestellt, sondern auch eine Umkehrung dieses rentenpolitischen Entwicklungspfades gefordert und mit konkreten Schritten versehen wird.

»Zu Beginn des Jahrhunderts beschloss die rot-grüne Bundesregierung eine drastische Absenkung des Rentenniveaus. Bis Anfang der 2030er Jahre wird der allgemeine Leistungsstandard der gesetzlichen Rente demnach um rund 20 Prozent sinken. Staatlich geförderte betriebliche Altersversorgung sowie private Altersvorsorge sollen die im Solidarsystem politisch aufgerissene Sicherungslücke schließen.« Genau das ist nicht erreicht worden, wie auch die Studie von Ingo Schäfer hat aufzeigen können.

Johannes Steffen weist dann auf einen systematischen, in der allgemeinen Renten-Diskussion allerdings grob vernachlässigten Zusammenhang hin:
In der Rentenpolitik gewinnen klientelgeleiteter Aktionismus – dies gilt für große Teile des  „Rentenpakets“ aus dem Jahr 2014 – und Placebo-Projekte die Oberhand, so die in der vergangenen Wahlperiode gescheiterte und nun im Koalitionsvertrag wieder aufgewärmte und mit dem Adjektiv „solidarisch“ drapierte  „Lebensleistungsrente“. Dazu Steffen: »Maßnahmen, die immer auch als Ablenkungsmanöver vom derweil ungebremst weiter sinkenden Rentenniveau politisch in Szene gesetzt werden – und Maßnahmen, die zwar das Niveau der von ihnen begünstigten Renten anheben, die aber unter der geltenden Anpassungsformel gleichzeitig zu einer Forcierung der Niveauabsenkung für alle Renten beitragen.«

Das ist der entscheidende und leider sehr schmerzhafte Punkt: Leistungsverbesserung für einige führen in der Gesamtheit aufgrund der Mechanik der Rentenanpassungsformel dazu, dass das Kollektiv mit einer Verschärfung der Rentenniveauabsenkung für alle konfrontiert wird, weil man eben nicht an die Mechanik der Formel herangegangen ist.

Wie konnte es zu der gewaltigen Rentenniveauabsenkung überhaupt kommen? Steffen verweist hier auf den fundamentalen Paradigmenwechsel in der Rentenpolitik Ende der 1990er und Anfang der 2000er Jahre und meint:

»Den Wechsel von einer am Leistungsziel orientierten Einnahmepolitik (das Sicherungsziel bestimmt die Beitragssatzhöhe) hin zu einer am Beitragssatz orientierten Ausgabenpolitik (die Beitragssatzhöhe bestimmt das Sicherungsziel).«

Zur Legitimation wurde damals zum einen auf die demografische Entwicklung verwiesen sowie zum anderen aus der „Standort“-Debatte der 1990er Jahre auf die angeblich nicht mehr stemmbaren „Lohnnebenkosten“ für die Arbeitgeber aufgrund der steigenden Beitragssätze. Hinzu kam damals »eine auf geradezu kindlichem Glauben an die unerschöpfliche „Ergiebigkeit“ der kapitalmarktabhängigen Altersvorsorge gründende Lobpreisung des Kapitaldeckungsverfahrens«, das dann in Form der „Riester-Rente“ in das Alterssicherungssystem als weitere staatlich geförderte Säule eingezogen wurde.

Eine zentrale Folge des angesprochenen Paradigmenwechsels hin zu einer am Beitragsziel orientierten Ausgabenpolitik: Der Beitragssatzanstieg zur allgemeinen Rentenversicherung wurde faktisch auf maximal 20 Prozent bis zum Jahr 2020 und maximal 22 Prozent bis zum Jahr 2030 gedeckelt. Und diese Deckelung hatte Konsequenzen, denn auf der Ausgabenseite musste es nun Ausgabenkürzungen geben – und diese nicht einmalig, sondern systematisch. Und diese Systematik hat man realisiert über eine neue Rentenanpassungsformel, über die dann die drastische Senkung des Rentenniveaus um rund ein Fünftel bis zu Beginn der 2030er Jahre modelliert worden ist.

Nun ist es mittlerweile immer stärker bewusst geworden, dass die Absenkung des Rentenniveaus im Zusammenspiel mit unterdurchschnittlichen Einkommen (man denke hier an die vielen Niedriglöhner) und unvollständigen Erwerbsbiografien aufgrund von Arbeitslosigkeit oder durch andere Gründe bedingte Ausstiege aus der Beitragszahlung aus Erwerbsarbeit dazu führen muss, dass es für bestimmte Personengruppen erhebliche Sicherungslücken im Alter geben wird, die dazu führen werden, dass die Betroffenen auf ergänzende Leistungen aus dem Grundsicherungssystem für Ältere angewiesen sind bzw. mit steigender Tendenz sein werden. Darauf hat die Politik zu reagieren versucht, allerdings wenig systematisch, wie Steffen argumentiert:

»So konzentrieren sich die wenig systematischen Ansätze von CDU/CSU, SPD und GRÜNEN denn auch in der Hauptsache auf Maßnahmen und/oder Instrumente, die eine Erhöhung von Anwartschaften im Einzelfall – Summe der (persönlichen) Entgeltpunkte – zum Ergebnis haben (Anhebung des Niveaus der Renten). Dieser Ansatz war schon für das zunächst gescheiterte Konzept der sogenannten Lebensleistungsrente aus der vergangenen Wahlperiode kennzeichnend und es findet seinen Niederschlag auch in dem von der großen Koalition für die laufende Legislaturperiode angekündigten Vorhaben einer  „solidarischen Lebensleistungsrente“. So sollen langjährig Versicherte mit 35 (bis 2023) bzw. 40 Versicherungsjahren und nach Einkommensprüfung eine Aufwertung ihrer Pflichtbeitragszeiten erfahren, sofern sie ansonsten – und bei (ab 2024) kontinuierlich betriebener privater Vorsorge – im Alter auf weniger als 30 Entgeltpunkte kommen. Wird dieses Ziel im Einzelfall verfehlt, so soll bei vorliegender sozialhilferechtlicher Bedürftigkeit ein weiterer Zuschlag bis zu einer Gesamtsumme von 30 Entgeltpunkten gewährt werden. – Ähnlich der Ansatz der GRÜNEN in ihrem Konzept einer Garantierente, die Versicherten bei Vorliegen von 30 und mehr Versicherungsjahren mindestens 30 Entgeltpunkte garantieren soll.«

Beide Vorstöße kommen lobenswert daher, geht es doch darum, den Bezug von bedürftigkeitsabhängigen Grundsicherungsleistungen nach langjähriger Zugehörigkeit zum Pflichtversicherungssystem zu verhindern bzw. zu reduzieren. Wer kann schon etwas dagegen haben? Aber:

»All diese Maßnahmen führen zweifelsohne zu einer Verbesserung des Niveaus der Renten. Eine Wirkung, die im Übrigen allen Maßnahmen zukommt, die die Guthaben auf den Versichertenkonten erhöhen. Vom Niveau der (einzelnen) Renten streng zu unterscheiden ist das Rentenniveau und dessen Entwicklung.«

Anders ausgedrückt: Die eine gut gemeinte Maßnahme wird zumindest teilweise sofort wieder kompensiert durch die negativen Wirkungen, die sich aus einer anderen Mechanik im Rentensystem ergeben, denn beim »Rentenniveau ... geht es nicht um den Umfang der Anwartschaften, also die Summe der (persönlichen) Entgeltpunkte, sondern um deren Wert oder Bewertung. Ausschlaggebend für den Wert der Anwartschaften ist die Höhe des aktuellen Rentenwerts (AR). Infolge der politisch vorgegebenen Abkoppelung der Renten von der Lohnentwicklung verlieren die Rentenanwartschaften (Entgeltpunkte) aber kontinuierlich an Wert – immer verglichen mit dem jeweiligen Stand der Löhne. Dieser Prozess der Entwertung von Anwartschaften wird von keiner der aufgeführten Maßnahmen verzögert und erst recht nicht gestoppt; auch die genannten Leistungsverbesserungen selbst sind daher von der Rentenniveausenkung betroffen und verlieren im Laufe der Zeit kontinuierlich an Wert.«

Das alles wäre schon schlimm genug, aber es gibt noch einen zweiten Hammer zu berücksichtigen:

»Im Zusammenhang mit der geltenden Anpassungsformel führen sämtliche Leistungsverbesserungen ihrerseits zu einer Beschleunigung des Wertverlustes der bereits berenteten wie auch aller noch nicht berenteten, selbst der in Zukunft erst noch zu erwerbenden Anwartschaften.«

Es ist ein bitterer Zusammenhang, den Steffen aufzeigen muss:

»Ein steigendes Niveau einzelner Renten führt unter der geltenden Anpassungsformel zwingend zu einer (zusätzlichen) Verminderung des Rentenniveaus für alle. Daher würden auch jene Maßnahmen, die der Rentenversicherung derzeit beispielsweise zur Vermeidung steigender Altersarmut politisch angedient werden, mit einer Dämpfung der Rentenanpassung und damit einer zusätzlichen Senkung des Rentenniveaus für alle erkauft.«

Im weiteren Verlauf seiner Ausarbeitung belegt er diesen allgemeinen Aspekt detailliert.

Bleibt die Frage: Was tun? Steffen plädiert für einen rentenpolitischen „Reset“. Gemeint ist damit: Anhebung des Rentenniveaus auf den Status quo ante. Es geht ihm also um eine sozialpolitische Rückbesinnung auf die lebensstandardsichernde gesetzliche Rente.

Die Zielvorgabe eines lebensstandardsichernden Rentenniveaus und dessen Stabilisierung im Zeitablauf erfordert eine neue Rentenanpassungsformel. Hierbei sind unterschiedliche Wege möglich, je nachdem, ob die Zielvorgabe Ausgangs- oder Endpunkt des Verfahrens ist (vgl. dazu ausführlicher Steffen 2015: 22 ff.). Er präsentiert uns zwei Modifikationen der Rentenanpassungsformel, mit denen man den einen Weg – „Die Renten folgen den Löhnen“ – wie auch den anderen Weg – „das Leistungsziel dient als Vorgabe für die Anpassungshöhe“ – beschreiten könnte.

Könnte, wenn man denn wollte.