Montag, 2. März 2015

Der deutsche gesetzliche Mindestlohn von 8,50 Euro ist nur Mittelmaß. Ist er das?


Das passt in die aktuelle Mindestlohn-Debatte: »Deutsche Unternehmer schimpfen auf den gesetzlichen Mindestlohn. Doch eine Studie zeigt: Mit 8,50 Euro liegt die Bundesrepublik international nur im Mittelfeld«, kann man dem Artikel Deutscher Mindestlohn ist nur Mittelmaß entnehmen. Als Nachzügler - in 22 der 28 EU-Staaten gilt nun ein gesetzlicher Mindestlohn - hat Deutschland seit Januar 2015 eine solche allgemeine Lohnuntergrenze von 8,50 Euro eingeführt, die für fast alle gilt und der erstmals wieder zum Januar 2017, also in gut zwei Jahren, angepasst werden kann, nachlaufend zur Tariflohnentwicklung der Vergangenheit. In 16 Staaten sei die gesetzliche Lohnuntergrenze zum 1. Januar gestiegen, berichtet der neue Mindestlohnbericht des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI), auf den sich der Artikel bezieht: »Der höchste Mindestlohn wird demnach in Luxemburg bezahlt, wo er zu Jahresbeginn ... auf 11,12 Euro kletterte. Den zweithöchsten Mindestlohn gibt es mit 9,61 Euro in Frankreich ... Auch andere deutsche Nachbarn hoben ihre Lohnuntergrenze an, darunter die Niederlande auf 9,21 Euro und Belgien auf 9,10 Euro.« Und da streiten wir uns über 8,50 Euro in der stärksten Volkswirtschaft der EU? Schauen wir etwas genauer hin.

Im internationalen Vergleich liegt der deutsche Mindestlohn von derzeit 8,50 Euro pro Stunde im Mittelfeld, wenn man das am "Medianlohn" misst (der Medianlohn ist der mittlere Lohn, bei dem die Hälfte aller Beschäftigten mehr und die andere Hälfte weniger verdient; er bildet den "wahren" Durchschnittsverdienst besser ab als das arithmetische Mittel, denn das kann durch wenige Ausreißer stärker verzerrt werden).

In der Pressemitteilung des WSI zum neuen Mindestlohnbericht liest sich das so: »Der deutsche Mindestlohn ist im westeuropäischen Vergleich moderat und liegt relativ zum nationalen Durchschnittsverdienst lediglich im internationalen Mittelfeld.« Insofern ist die im zitierten Artikel gemachte Aussage »Mit 8,50 Euro liegt die Bundesrepublik international nur im Mittelfeld« eine etwas irreführende Zusammenfassung. Wie so oft in der Statistik geht es immer auch um die Bezugsbasis und das Bezugsjahr. Beispiel Großbritannien:

»In den westeuropäischen Euro-Ländern betragen die niedrigsten erlaubten Brutto-Stundenlöhne nun zwischen 8,50 Euro in Deutschland und 11,12 Euro brutto in Luxemburg. In Großbritannien müssen umgerechnet mindestens 8,06 Euro gezahlt werden. Dieser Wert ist jedoch von der anhaltenden Schwäche des Britischen Pfunds beeinflusst. Wenn man den Wechselkurs zugrunde legen würde, der 1999 bei Einführung des britischen Mindestlohns galt, läge dieser heute bei 9,87 Euro und damit im westeuropäischen Spitzenbereich«, kann man der Zusammenfassung des Mindestlohnberichts 2015 entnehmen.

Aber auch hier findet man - mit Bezug auf Thorsten Schulten, dem Verfasser des Mindestlohnberichts - die folgende Formulierung:

»Der neue deutsche Mindestlohn liegt nach Schultens Analyse bei der absoluten Höhe „am unteren Rand der westeuropäischen Spitzengruppe“ – hinter Luxemburg, Frankreich, den Niederlanden, Belgien und Irland. Schaut man auf das relative Niveau, rangiert Deutschland lediglich im internationalen Mittelfeld: Gemessen am jeweiligen Medianlohn, den Vollzeitbeschäftigte verdienen, hätte die deutsche Lohnuntergrenze im Jahr 2013 – dem letzten, für das derzeit international vergleichbare Daten vorliegen – 50 Prozent betragen. Beim Medianlohn handelt es sich um denjenigen Lohn, bei dem die Hälfte aller Beschäftigten mehr und die andere Hälfte weniger verdient. Da seit 2013 der Medianlohn in Deutschland weiter angestiegen ist, dürfte der relative Wert des Mindestlohns heute sogar unter 50 Prozent liegen.«

Also doch. Allerdings gibt es dann im weiteren Verlauf einen wichtigen Hinweis, der zur Relativierung einlädt: »Setzt man die Lohnuntergrenze ins Verhältnis zu den nationalen Lebenshaltungshaltungskosten, profitieren deutsche Mindestlohnbezieher vom relativ günstigen Preisniveau in der Bundesrepublik: Ihre Kaufkraft ist etwas höher als die von Beschäftigten, die in den Niederlanden, Belgien oder Irland für den Mindestlohn arbeiten müssen.« An dieser Stelle wird der Ökonom sofort an die Kaufkraftparitäten denken. »Kaufkraftparitäten sind Preisrelationen, die angeben, wie viele Einheiten inländischer Währung erforderlich sind, um die gleiche Menge an einem Gut oder an einem Bündel von Gütern zu erwerben, die für eine Einheit einer bestimmten ausländischen Währung erhältlich ist«, so die Erläuterung der Bundesstatistiker. Aber nicht nur für die Vergleiche zweier oder mehr Länder mit unterschiedlichen Währungen nutzt man das, auch innerhalb der Euro-Zone ist das relevant und wird auch zur Anwendung gebracht.


Der Euro hat in einzelnen Ländern der Eurozone abhängig vom nationalen Preisniveau eine unterschiedliche Kaufkraft. Die Kaufkraftparitäten sind Preisverhältnisse zwischen Preisen für gleiche Waren oder Dienstleistungen. Für die Preiserhebung wird ein Korb vergleichbarer Waren und Dienstleistungen verwendet, die die Verbrauchsstrukturen der verschiedenen Länder berücksichtigen. Es geht also um Umrechnungsfaktoren in eine künstliche gemeinsame Währung, Kaufkraftstandard (KKS) genannt, um die Aggregate dann vergleichen zu können. Beispielsweise die Kaufkraft der Löhne in den einzelnen Euro-Ländern.

Das WSI-Tarifarchiv, das auch den Mindestlohnbericht verantwortet, hat nun auch die gesetzlichen Mindestlöhne nach dem KKS-Konzept ausgewiesen, also unter Berücksichtigung der Kaufkraftverhältnisse nicht nur zu Ländern mit anderen Währungen, wie den USA, Großbritannien usw., sondern auch zwischen den einzelnen Mitgliedsstaaten der Euro-Zone. Nach Korrektur um die unterschiedlichen Kaufkraftverhältnisse ergeben sich die Verhältnisse, die in der zweiten Abbildung dargestellt sind.

Wenn man das macht, dann zeigt sich, dass Deutschland mit seinem neuen gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro auf den dritten Platz im europäischen Vergleich vorrückt - nur in Luxemburg und in Frankreich ist der so umgerechnete Wert höher.

Und ein weiterer Aspekt ist hier z berücksichtigen: Seit dem 1. Januar 2015 gibt es einen allgemeinen gesetzlichen Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro auf Basis des Mindestlohngesetzes (MiLoG), allerdings Ausnahmen vom Mindestlohn für einzelne Personen- und Beschäftigtengruppen (Jugendliche unter 18 Jahren, Praktikanten, Langzeitarbeitslose, Zeitungszusteller) - und über den wurde hier bislang gesprochen. Darüber hinaus gibt es aber auch noch allgemeinverbindliche Branchenmindestlöhne auf Basis des Tarifvertragsgesetzes (TVG), des Arbeitnehmerentsendegesetz (AEntG) und des Arbeitnehmerüberlassungsgesetzes (AÜG). Nur noch für eine Übergangszeit von mittlerweile weniger als zwei Jahren, bis Ende 2016, dürfen Branchenmindestlöhne unter dem allgemeinen Mindestlohn von 8,50 Euro liegen. In sechs Branchen liegen die Mindestlöhne derzeit noch unterhalb von 8,50 Euro. Aber es gibt auch zahlreiche Branchenmindestlöhne, die über den 8,50 Euro liegen - und das müsste korrekterweise auch berücksichtigt werden. Und hier geht es nicht um irgendwelche abseitigen Gruppen der Gesellschaft:

»Aktuell bestehen für 18 Wirtschaftszweige branchenspezifische Mindestlöhne. Insgesamt arbeiten in diesen Branchen rund 4,6 Millionen Beschäftigte. Diese Mindestlöhne bewegen sich je Branche und regionalem Tarifgebiet zwischen 7,20 und 14,20 Euro.« (2015 – Das Jahr des Mindestlohns: Alle Daten auf einen Blick)

Das relativiert auf der einen Seite die Aussage, dass der deutsche Mindestlohn eher im Mittelfeld oder gar im unteren Mittelfeld liegt, auf der anderen Seite bleibt dieser Befund davon unberührt, was im neuen Mindestlohnbericht (Thorsten Schulten: WSI-Mindestlohnbericht 2015 – Ende der Lohnzurückhaltung?, in: WSI-Mitteilungen, Heft 2/2014, S. 133-140) so formuliert wird: »Hätte Deutschland bereits im Jahr 2013 einen Mindestlohn von 8,50 € pro Stunde eingeführt, so hätte dieser bei 50 % des Medianlohns für Vollzeitbeschäftigte gelegen« (S. 135). In einer Fußnote erläutert er den Rechenweg: »Die Beschäftigungsstatistik der Bundesagentur für Arbeit weist für das Jahr 2013 für Vollzeitbeschäftigte einen Medianlohn von 2.960 € pro Monat aus ... Bei einer 40-Stunden-Woche entspricht dies einem Median-Stundenlohn von 17,11 €. Ein Mindestlohn von 8,50 € pro Stunde läge demnach bei 49,7 % des Medianlohns.«

Das relative Niveau des Mindestlohns ist in den meisten Ländern nicht besonders hoch und auch in Deutschland liegt es deutlich unterhalb der offiziellen Niedriglohnschwelle, die nach internationalen Konventionen bei zwei Dritteln des Medianlohns angesetzt wird. »In vielen Ländern reicht das Mindestlohnniveau demnach nicht aus, um die wachsende Anzahl von „arbeitenden Armen“ (wor- king poor) zu begrenzen«, so Schulten (S. 136).

In diesem Kontext interessant ist dann auch der Hinweis von Schulten, dass die Diskussionen über eine koordinierte Europäische Mindestlohnpolitik wieder an Intensität gewonnen haben. Dabei gehe es im Wesentlichen darum, sich auf europäischer Ebene auf einen gemeinsamen Mindestlohnstandard zu verständigen. Vorgeschlagen werde beispielsweise, dass der Mindestlohn in allen EU-Staaten 55 oder 60 Prozent des jeweiligen nationalen Medianlohns nicht unterschreiten dürfe.

Aus dieser Perspektive wäre der derzeitige gesetzliche Mindestlohn also eindeutig zu niedrig. Und zuweilen würde es auch ausreichen, mit Betroffenen zu sprechen, wie sie mit so einem Mindestlohn über die Runden kommen (können). Damit kann man nicht nur keine großen Sprünge machen, auch normale Schritte fallen da schon schwer. Und wir reden erst gar nicht über die Tatsache, dass auch ein Mindestlohn von (derzeit) 8,50 Euro bei 45 (!) Beitragsjahren nicht zu einer Rente aus der Gesetzlichen Rentenversicherung führen wird, die oberhalb des Grundsicherungsniveaus für Ältere liegen wird (vgl. hierzu auch meinen Blog-Beitrag 8,17 Euro, 10,98 Euro bzw. eigentlich 11,94 Euro pro Stunde. Und 2028 dann 17,84 Euro. Es geht um den existenzsichernden Mindestlohn vom 17.02.2015). Und natürlich setzt das alles voraus, dass der Mindestlohn überhaupt in der genannten Höhe zur Auszahlung kommt. Keine Frage. Aber dennoch muss man eben auch sagen, dass wir uns mit den 8,50 Euro keineswegs im Keller- oder Erdgeschoss befinden, sondern eher weit oben - was wiederum den Betroffenen, die über die Runden kommen müssen, kaum Trost spenden wird.