Montag, 16. Februar 2015

Hartz IV: Teurer Strom, Energiearmut und das ewige Pauschalierungsdilemma


Mit dem Beginn des neuen Jahres wurden die Leistungen im Hartz IV-System erhöht: Alleinstehende müssen mit einem Eck-Regelsatz von 399 Euro monatlich auskommen, bis zum Jahresende 2014 waren es noch 391 Euro. Die Erhöhung des Regelsatzes um 8 Euro pro Monat orientiert sich zu  70 Prozent an den Verbraucherpreisen sowie zu 30 Prozent am Lohnniveau. Zusätzlich zu den Regelleistungen werden die angemessenen Kosten für Unterkunft und Heizung (Miete inkl. Heizkosten) übernommen, wobei die Betonung auf "angemessen" liegt. Die Stromkosten, die in einem Hartz IV-Haushalt anfallen, sind aus dem Regelsatz zu decken - und dafür stehen kalkulatorisch die in der Abbildung ausgewiesenen 33,36 Euro pro Monat für "Wohnen, Energie und Wohninstandhaltung" zur Verfügung. Das Vergleichsportal CHECK24 hat nun die Ergebnisse einer Vergleichsanalyse der realen Stromkosten und der im Regelsatz eingeplanten Mittel vorgenommen: Stromkosten höher als Hartz-IV-Satz für Energie, so das zentrale Ergebnis des Vergleichs.

Die CHECK24-Analyse zeigt, dass die Strompreise, aufs Jahr gerechnet, durchschnittlich 29 Prozent teurer sind als das, was in dem Regelsatz eingerechnet ist. Das bedeutet für Hartz-IV-Empfänger Mehrkosten von etwa 116 Euro im Jahr, die aus anderen Bestandteilen des Hartz IV-Regelsatzes gedeckt werden müssen.

»In keinem deutschen Bundesland reicht die Bemessungsgrundlage für Energie im ALG II aus, um die Stromkosten komplett zu decken.
Dabei unterscheidet sich die Höhe der Mehrkosten für Strom zwischen den Bundesländern. Während Hartz-IV-Empfänger in Rheinland-Pfalz mit monatlich fast zwölf Euro die größte Differenz zwischen Regelsatz und Stromkosten stemmen müssen, zahlen Empfänger der Sozialleistung in Bremen im bundesweiten Vergleich mit knapp fünf Euro weniger zusätzlich für ihre Stromversorgung.
In den östlichen Bundesländern ist die finanzielle Belastung durch die Stromkosten höher, als in den westlichen: Während im Osten Deutschlands etwa zehn Prozent der Bevölkerung Hartz-IV beziehen, liegt dieser Anteil im Westen bei 6,4 Prozent. Gleichzeitig ist der Strom im Osten durchschnittlich 3,8 Prozent teurer.
Durchschnittlich bezahlen ostdeutsche Haushalte rund 44 Euro im Monat für Strom – und damit fast 11 Euro (31 Prozent) mehr als im monatlichen ALG-II-Regelsatz für Energiekosten vorgesehen sind. In Westdeutschland, wo Stromkunden monatlich im Schnitt rund 42 Euro für elektrische Energie ausgeben, liegt die Differenz nur bei 8,89 Euro (27 Prozent).«

Nun könnte man an dieser Stelle einwenden, dann sollen die betroffenen Hartz IV-Empfänger eben die vielfältigen Wechselmöglichkeiten nutzen, die wir mittlerweile auf dem Strommarkt haben, wodurch man theoretisch eine Menge Geld sparen könnte, wenn man einen Tarif- oder Anbieterwechsel vollzieht. Hierzu aber aus dem Artikel Hartz-IV-Regelsätze decken Stromkosten nicht:

»Für Verbraucher mit geringer Bonität sei es kaum möglich, aus der Grundversorgung zu einem Alternativanbieter zu wechseln und Stromkosten zu sparen, teilte Check24 mit. In den meisten Fällen würden sie nach der Bonitätsprüfung von den Anbietern abgelehnt und müssten "im teureren Grundversorgungstarif bleiben", erklärte Isabel Wendorff von dem Vergleichsportal.«

Das fügt sich alles ein in eine Diskussionslinie, die seit längerem unter dem Begriff "Energiearmut" geführt wird. Immerhin gibt es für den sozialpolitischen Begriff Energiearmut mittlerweile schon einen eigenen Wikipedia-Eintrag. Dort findet man die folgende Annäherung: »Energiearmut ist ein Begriff aus der Sozialpolitik und beschreibt den Zusammenhang von Armut und den Kosten für Energie. Einerseits beschreibt er die steigenden Energiekosten als Armutsrisiko und andererseits die Schwierigkeiten der Armen in den Industrieländern, die steigenden Energiekosten bezahlen zu können.«

Wir sprechen hier über ein hoch relevantes gesellschaftliches Problem. So berichtet beispielsweise der WDR in einem Feature unter der Überschrift Stecker raus - Menschen ohne Strom:

»Jährlich sind bundesweit mehr als 300.000 Haushalte von Stromsperrungen betroffen, Tendenz steigend. Auch der zunehmende illegale "Stromklau" ist ein Indiz dafür, dass vielen Menschen Energie zu teuer geworden ist.«

Was könnte man tun? Einer der Wohlfahrtsverbände hat sich sogleich zu Wort gemeldet: Stromkosten und Hartz IV: Paritätischer Wohlfahrtsverband fordert Sofortmaßnahmen gegen Energiearmut, so ist die Pressemitteilung überschrieben.

»Der Verband fordert, die Stromkosten für Hartz-IV-Bezieher künftig nicht mehr im Regelsatz zu pauschalieren, sondern wie die Wohn- und Heizkosten direkt und in voller Höhe zu übernehmen ... „Stromkosten lassen sich nicht pauschalieren und haben daher nichts im Regelsatz zu suchen. Klar und konsequent wäre es, wenn auch die Stromkosten genau wie die Heizkosten in tatsächlicher Höhe übernommen würden“ ... Neben der Übernahme der Stromkosten in Hartz IV spricht sich der Verband auch für eine Reform des Wohngeldes aus. Dringend erforderlich sei hier die Einführung einer Energiekostenkomponente. Bisher fielen bei der Berechnung des Wohngeldes Strom- und Heizkosten unter den Tisch, was hunderttausende einkommensschwache Haushalte knapp über der Hartz-IV-Schwelle regelmäßig in Not bringe.«

Da ist es wieder, das Pauschalierungsdilemma des Hartz IV-Systems. In den allgemeinen, pauschalen Regelsatz ist ein Teilbetrag für die Energiekosten kalkulatorisch eingerechnet, aber den Regelsatz gibt es als Pauschale über alle Einzelkomponenten und selbst das durchaus kritische Bundesverfassungsgericht hatte in seinem letzten Urteil ausgeführt, dass eine rechnerische Unterdeckung in einem Bereich grundsätzlich ja kompensiert werden könne, in dem man sich aus anderen Bereichen des Regelsatzes bedient. Was natürlich nur funktioniert, wenn der Regelsatz insgesamt so "großzügig" kalkuliert ist, dass er diese Umschichtungspotenziale überhaupt eröffnet. Das tut er aber nicht, wie viele Kritiker anmerken.

Aber auch der Lösungsvorschlag des Paritätischen ist nicht ohne innere Schwierigkeiten. Dazu bereits aus dem Jahr 2012 ein Zitat aus einem damaligen Blog-Beitrag auf der Facebook-Seite von "Aktuelle Sozialpolitik", denn bereits damals ging es um das nun wieder aktualisierte Problem der "Energiearmut" in Hartz IV-Haushalten:

»Auch wenn man gerade bei einer so existenziellen Angelegenheit wie der Versorgung mit Strom nicht unbedingt Spielverderber sein möchte: Bedenken sollte man aber, dass es immer wieder ungeplante Nebenwirkungen einer gut gemeinten Sache gibt. Ich will dies am Beispiel der Übernahme der tatsächlichen Wohnkosten in der Grundsicherung illustrieren: Wenn man sagen würde, wir übernehmen generell die Wohnkosten, dann kann (und relativ plausibel wird) das dazu führen, dass die Vermieter ihre Preiskalkulation an diese „sichere“ Zuflussquelle anpassen, also nach oben treiben werden. Deshalb gibt es ja auch im SGB II die nur auf den ersten Blick einfache Einschränkung, dass nur die „angemessenen“ Wohnkosten übernommen werden. Aber genau um die Frage der Operationalisierung der Angemessenheit füllen sich ganze Archive mit Sozialgerichtsurteilen. Einer der zentralen Schlachtfelder der Prozesslawine im Grundsicherungsbereich. Und Hand aufs Herz: Würde man – wie der Paritätische es fordert – die Stromkosten in tatsächlicher Höhe übernehmen, wie will man dann deutlich nach oben abweichendes Verbrauchsverhalten rechtfertigen, das man dann mitfinanzieren müsste? Ich kann das hier nur andeuten, aber darin liegt ein gewaltiges Ungerechtigkeitspotenzial, wenn wir an die vielen Haushalte denken, die zwar über wenig Einkommen verfügen, aber keine Übernahme der Kosten bekommen, weil sie oberhalb der Einkommensgrenzen liegen. Leider ist es in der Realität oft nicht so einfach, wie manche Forderungen daherkommen.«

Letztendlich sind wir hier - immer wieder - konfrontiert mit dem Problem der Pauschalierung der Leistungen im Grundsicherungssystem. Das nicht auflösbare Pauschalierungsdilemma wird natürlich dann ganz besonders problematisch, wenn die Pauschalen (zu) niedrig kalkuliert sind und die angesprochenen Kompensationsmöglichkeiten nicht oder nur sehr eingeschränkt existieren. Auch dazu hatte sich Ende des Jahres 2014 der Paritätische Wohlfahrtsverband zu Wort gemeldet: Neue Expertise zu Hartz IV: Paritätischer fordert 485 Euro Regelsatz. Der Regelsatz sei „mutwillig kleingerechnet“ und erfülle nach wie vor nicht die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts, so der Wohlfahrtsverband. »Nach einer Expertise des Paritätischen müsste der Regelsatz eigentlich um 24 Prozent auf 485 Euro angehoben werden, wenn die Bundesregierung das selbstgewählte Statistikmodell konsequent anwenden würde und sie den Mindestbedarf der Leistungsbezieher in Hartz IV, Sozialhilfe und Altersgrundsicherung wirklich decken wollte.«

Wer die angesprochenen Expertise im Original lesen möchte, der kann die hier abrufen:

Rudolf Martens: Expertise zur Fortschreibung der Regelsätze zum 1. Januar 2015. Tabellen zur Aufteilung der Verbrauchspositionen von Regelsätzen (Regelbedarfsstufen) 2008 bis 2015. Berlin: Paritätische Forschungsstelle des Paritätischen Gesamtverbandes, Dezember 2014
Und wer es ganz wissenschaftlich braucht, dem sei die Studie von Becker und Schüssler aus dem Jahr 2014 empfohlen:

Irene Becker / Reinhard Schüssler: Das Grundsicherungsniveau: Ergebnis der Verteilungsentwicklung und normativer Setzungen. Eine empirische Analyse auf Basis der EVS 2003 und 2008. Düsseldorf: Hans-Böckler-Stiftung, 2014