Mittwoch, 30. Dezember 2015

Rückblick und Blick nach vorne: Der Mindestlohn. Von Horrorszenarien am Jahresanfang über einen offensichtlich mindestlohnresistenten Arbeitsmarkt hin zur Quo vadis-Frage im kommenden Jahr

Mit Beginn des nunmehr auslaufenden Jahres 2015 trat er in Kraft, der gesetzliche Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde für - nun ja: fast - alle. Als unterste Auffanglinie für die vielen Niedriglöhner, die in der Prä-Mindestlohnwelt für teilweise deutlich weniger in der Stunden hatten arbeiten müssen. Und wenn wir uns zurückerinnern an die letzten Monate des Jahres 2014 und die ersten dieses Jahres, dann war die veröffentlichte Debatte geprägt von einem dieser typisch deutschen Entweder-Oder-Formationen. Entweder der Mindestlohn als "Jobkiller" und als Auslöser des Untergangs des Arbeitsmarktes für Millionen Niedriglohnbeschäftigte, die in Folge der für Arbeitgeber unbezahlbar werdenden Arbeit ausgespuckt und zum Nichtstun verdammt sein werden. Oder aber auf der anderen Seite der Mindestlohn als Rettung vor dem "working poor"-Dasein, bei manchen Apologeten dieses Instrumentariums sicher auch eine nachholende Korrektur dessen, was man bei den "Hartz-Reformen" längst mit hätte machen müssen.

Wie immer im Spiel gibt es auch die Nachdenklichen, die zwischen den Welten des Schwarz oder Weiß pendeln und deren skeptische Sichtweise durch die folgende Ambivalenz angerissen werden kann: Auf der einen Seite ist ein gesetzlicher Mindestlohn eine Art Kapitulationserklärung, da offensichtlich diejenigen, die über Tarifverträge eigentlich Ordnung auf den Arbeitsmärkten schaffen sollten, also Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände, dazu nicht (mehr) in der Lage sind und der Staat unterstützend eingreifen muss, um eine weitere sich verstärkende Abwärtsbewegung der Löhne nach unten zu verhindern bzw. wenigstens aufzuhalten. Auf der anderen Seite wurde bei nüchterner Betrachtung des Gesamtzusammenhangs auch darauf hingewiesen, dass die 8,50 Euro pro Stunde eigentlich zu niedrig angesetzt sind, um damit (zumindest in den Ballungsgebieten) über die Runden kommen zu können, von der Versorgung einer Familie ganz abgesehen. Und auch für eine Rente oberhalb dessen, was man als Grundsicherung im Alter bekommen würde, reichen die 8,50 Euro pro Stunde nicht aus, vor allem wegen der Absenkung des Rentenniveaus durch die Rentenreformen der damaligen rot-grünen Bundesregierung am Anfang des Jahrtausends.

Dienstag, 29. Dezember 2015

Wenn das Bundessozialgericht unangenehm entscheidet, kann es schnell gehen: Sozialhilfeanspruch für EU-Ausländer soll gesetzgeberisch eingeschränkt werden

Das geht schnell: Nahles will Sozialhilfe für EU-Ausländer einschränken: »Laut Bundessozialgericht haben EU-Bürger nach sechs Monaten in Deutschland Anspruch auf Sozialhilfe. Arbeitsministerin Nahles will die Leistung nun per Gesetz einschränken. Die Kommunen dürften nicht überfordert werden.« Und die Ministerin selbst im O-Ton: "Wir müssen die Kommunen davor bewahren, unbegrenzt für mittellose EU-Ausländer sorgen zu müssen", wird die Ministerin in dem Artikel zitiert.

»Nahles reagiert damit auf eine Entscheidung des Bundessozialgerichts zu Sozialleistungen für arbeitsuchende Zuwanderer aus EU-Staaten. Das Urteil von Anfang Dezember schreibt vor, dass EU-Bürger bei einem Aufenthalt ab sechs Monaten in Deutschland Hilfen zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe beantragen können.
Nach Einschätzung des Städte- und Gemeindebunds bekommen dadurch zusätzlich 130.000 Menschen in Deutschland Anspruch auf Sozialhilfe. Von Hartz-IV-Leistungen dürfen EU-Bürger aber ausgeschlossen werden.«

Montag, 28. Dezember 2015

Rückblick und Blick nach vorne: Die Mühen der Ebene - auf dem tariflichen Weg zu mehr Pflegepersonal im Krankenhaus?

In den letzten Tagen des Jahres häufen sich die Rückblicke auf das, was im nun auslaufenden Jahr war. Und gerade bei sozialpolitisch relevanten Themen ist das von Bedeutung, denn hier dominiert das immer kurzatmiger werdende Aufrufen aktueller Themen und deren schnelle Ablösung neuer Säue, die durch das Dorf getrieben werden. Regelmäßig kommt dabei das Nachhalten, was denn aus den Themen geworden ist, zu kurz.

Kein halbwegs unabhängiger Beobachter wird sich der Diagnose verweigern, dass wir in den Pflegeheimen und in den Krankenhäusern konfrontiert sind mit einem veritablen Personalproblem - vor allem, neben den qualitativen Fragen, ein zu wenig an Personal, gerade in der Pflege. Auf Twitter wird das nun zu Ende gehende Jahr 2015 eingehen als Jahr des Hashtags #Pflegestreik, unter dem viele Betroffene aus der Pflege selbst den - eigentlich - unabweisbaren Bedarf nach einem großen Konflikt angesichts der immer schwieriger werdenden Arbeitsbedingungen zum Ausdruck gebracht haben und bringen. In diesem Kontext gab es in diesem Noch-Jahr einen ersten, nur scheinbar kleinen, lokal begrenzten Tarif-Konflikt, der möglicherweise als Initialzündung in die Sozialgeschichte eingehen wird: Gemeint ist der Streik der Pflegekräfte an der Berliner Charité - immerhin Europas größte Universitätsklinik, die mit ihren Tochterfirmen mehr als 16.000 Mitarbeiter beschäftigt und einer der größten Arbeitgeber Berlins ist - im Sommer dieses Jahres, bei dem es nicht um mehr Geld, sondern um mehr Personal ging (vgl. dazu auch die Beiträge in diesem Blog Mehr, sie brauchen und wollen mehr. Mehr Personal. Ein Streik, der das Gesundheitssystem erschüttern könnte. Der Arbeitskampf des Pflegepersonals an der Charité in Berlin vom 22.06.2015 sowie Nicht mehr Geld, sondern mehr Leute: Der unbefristete Pflegestreik an der Charité in Berlin wird ausgesetzt. Eckpunkte für eine zukünftige Personalausstattung vereinbart vom 01.07.2015). Wie ist der aktuelle Stand bei diesem so wichtigen Vorstoß zugunsten einer besseren Personalausstattung?

Donnerstag, 24. Dezember 2015

Bei einer Hommage an die Paketzusteller darf der Blick in die Glaskugel nicht fehlen

In wenigen Stunden ist sie vorbei, die große Auslieferungswelle für die vielen Paketboten in unserem Land. Dann kehrt wieder Normalität ein, wobei diese keine Konstante ist, sondern ein bewegliches Ziel nach oben. Seit Jahren steigt die Menge der auszuliefernden Pakete kontinuierlich an, die "Amazonisierung" unserer Gesellschaft schlägt sich hier nieder in Zuwachsraten für die Paketdienste, die sich im zweistelligen Prozentbereich bewegen. Aber in den Wochen vor dem Weihnachtsfest war und ist es am heftigsten - und das wird auch so bleiben. In dieser Zeit macht der Einzelhandel einen großen Teil seiner Umsätze und immer davon werden per Klick und Anlieferung über das Internet geordert.  Um so bedeutsamer werden die Paketdienste zwischen Handel und Kunden, zuweilen und immer öfter werden sie auch zum Nadelöhr. Kunden beschweren sich - zunehmend - über Qualitätsprobleme bei der Zustellung der bestellten Waren, entnervte Paketzusteller wissen nicht mehr ein und aus.

Und manche Politiker glauben, in dieser Gemengelage auch noch billig Punkte zu machen, in dem sie mitsurfen auf der Welle der "Ich-reg-mich-auf-Kunden" - die mittlerweile von der Verbraucherzentrale sogar eine eigene Website für ihre Beschwerden zur Verfügung gestellt bekommen (www.paket-ärger.de). Beispielsweise der Verbraucherschutzminister Heiko Maas (SPD), der es dann zu solchen Artikeln bringt: Minister Maas kritisiert „Geschenke, die erst zu Ostern kommen“: »Verbraucher- und Justizminister Heiko Maas hat kurz vor den Feiertagen klare Worte an die Paketdienstleister gerichtet. Die Verbraucher hätten ein Recht auf pünktliche und zuverlässige Auslieferung.« Das hört sich gut und energisch an. „Die Rechte von Verbrauchern müssen gewahrt werden“, wird er zitiert. Insbesondere vor den Weihnachtstagen sei es besonders wichtig, sich auf die Zusteller verlassen zu können. Das mag dem einzelnen Kunden gefallen - aber kein Wort zu den möglichen strukturellen Ursachen für die tatsächlich überall zunehmende Unzufriedenheit mit den Paketdiensten, bei deren Arbeit sich die Mängel tatsächlich häufen. Im schlimmsten Fall bleibt hängen, dass die Paketzusteller ihre Arbeit nicht (mehr) richtig machen.

Dienstag, 22. Dezember 2015

Jobcenter verschwenden Fördergeld für Langzeitarbeitslose! Aber tun sie das wirklich? Die Lohnkostenzuschüsse und ein auf dem Kopf stehendes Förderrecht


So eine Meldung passt bei vielen in das Weltbild und scheint auch plausibel daherzukommen: Schludriger Umgang mit Steuergeld - Kritik an Jobcentern. Unter dieser Überschrift berichtet Thomas Öchsner über eine Abschlussmitteilung des Bundesrechnungshofes an das Bundesarbeitsministerium auf der Basis von 370 geprüften Förderfällen in acht Jobcentern und einer schriftlichen Befragung von 13 weiteren Jobcentern - von insgesamt mehr als 400 Jobcentern in Deutschland.

Sonntag, 20. Dezember 2015

Und wieder einmal grüßt täglich das Murmeltier: Hartz IV und die Wohnungsfrage


In wenigen Tagen, zum Jahresanfang 2016, wird "Hartz IV" erhöht - bei einer alleinstehenden Person von derzeit noch 399 Euro um fünf Euro auf 404 Euro. Aber damit ist nur ein Teil dessen gemeint, was unter "Hartz IV-Leistungen" zu subsumieren ist. Der Betrag in der genannten Höhe ist der "Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts" nach § 20 SGB II, daneben gibt es für bestimmte Fallkonstellationen noch einige wenige Mehrbedarfe (z.B. für Alleinerziehende) und als weiterer großer Leistungsbereich neben dem Regelsatz gibt es dann noch die Kostenübernahme für Unterkunft und Heizung. Der § 22 SGB II präzisiert bzw. begrenzt den letzten Punkt: "Bedarfe für Unterkunft und Heizung werden in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen anerkannt, soweit diese angemessen sind." Und da fängt der Ärger an, denn es handelt sich bei der Formulierung "angemessen" um einen der im Sozialrecht weit verbreiteten unbestimmten Rechtsbegriffe, deren Auslegung und Infragestellung Lohn und Brot für einen ganzen Zweig der Juristerei sicherzustellen vermag. Aber für die Betroffenen hat das alles ganz handfeste Konsequenzen: »Sparen auf Kosten der Ärmsten: Im vergangenen Jahr versagten Jobcenter Bedürftigen fast 800 Millionen Euro Sozialleistungen. 620 Millionen davon entfielen auf nicht anerkannte Wohnkosten. Im Schnitt musste damit jede der 3,26 Millionen »Bedarfsgemeinschaften«, also Familien, die Hartz IV beziehen, 200 Euro Miete aus dem Regelsatz zuzahlen«, so Christina Müller in ihrem Artikel Zu wenig zum Leben.

Samstag, 19. Dezember 2015

Tod und Spiele. Katar mal wieder - ein fast vergessenes Beispiel für "moderne Sklaverei"

1,8 Millionen "moderne Sklaven" bauen die WM-Stadien in Katar. 7.000 Tote bis zum Anpfiff des ersten WM-Spiels. So brutal-trocken in nackte Zahlen verpackt kommen zusammenfassend einige zentrale Befunde aus einem neuen Bericht des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB) rüber.
Der neue IGB-Bericht zu Katar trägt den Titel Katar: Gewinner und Verlierer. Denn die Arbeiter bezahlen mit ihrem Leben, während Großkonzerne Milliardengewinne machen:
Die meist westlichen Unternehmen, die in Katar die Infrastruktur für die FIFA-Fußballweltmeisterschaft 2022 bauen, werden dort laut IGB-Bericht Gewinne in Höhe von 15 Milliarden Dollar machen und dabei auf bis zu 1,8 Millionen Wanderarbeitskräfte zurückgreifen werden, die "wie moderne Sklaven behandelt werden".

Freitag, 18. Dezember 2015

Tarifbindung erreicht - Tarifbindung verloren. Das tarifpolitische Hin und Her im Einzelhandel am Beispiel von Primark und Real


Es gibt sie auch, die guten Nachrichten: Wichtiges Signal für die Beschäftigten im Handel – Tarifbindung für Modekette Primark vereinbart, so ist eine Pressemitteilung der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di überschrieben. Primark - da war doch was, wird der eine oder andere an dieser Stelle einwerfen. Genau. Noch im Februar dieses Jahres konnte man in dem Blog-Beitrag Billiger, noch billiger. Wo soll man anfangen? Karstadt, Deutsche Post DHL, Commerzbank ... und Primark treibt es besonders konsequent zu diesem Unternehmen lesen, dass man dort mit einem  besonders "konsequenten" Beispiel für Lohndrückerei konfrontiert werde: »... besonders konsequent deshalb, weil dieses Unternehmen offensichtlich - folgt man der aktuellen Berichterstattung - nicht nur generell niedrige Löhne zahlt, sondern die kostensenkenden Effekte potenziert durch eine "eigenartige" Arbeitszeitgestaltung und - um den ganzen die Krone aufzusetzen - mit tatkräftiger Unterstützung der örtlichen Arbeitsagenturen und Jobcenter einen Teil der  anfallenden betrieblichen Kosten auch noch sozialisiert zu Lasten des Steuerzahlers.« Die Vorwürfe damals: Viele Mitarbeiter müssen auf der Basis befristeter Teilzeitverträge arbeiten, was dem Unternehmen Primark maximale Flexibilität bietet. Und der Staat greift Primark kräftig unter die Arme: bei der Personalrekrutierung. Wenn sich der Textilkonzern in einer neuen Stadt ansiedelt, arbeitet er oft mit den Jobcentern und den Arbeitsagenturen zusammen und nutzt nicht nur die kostenlose Personalvermittlung, sondern zusätzlich häufig Eingliederungszuschüsse für die Anstellung von Langzeitarbeitslosen. Und am Beispiel Köln wurde aufgezeigt,  dass von den 360 vermittelten Arbeitskräften 116 so wenig verdienen, dass sie zusätzlich aufstockende Leistungen vom Jobcenter erhalten. Und die haben das offensichtlich systematisch "professionalisiert". Über das Beispiel Hannover berichtet der Artikel Primark entlässt 132 Mitarbeiter: »Die Modekette Primark soll 132 der gut 500 Beschäftigten ihrer Filiale in Hannover entlassen haben ... Auffällig sei, dass genau die Verträge von denjenigen Mitarbeitern nicht verlängert worden seien, die nach einem Jahr Beschäftigung Anspruch auf eine unbefristete Stelle gehabt hätten, heißt es aus Mitarbeiterkreisen. Dagegen sollen die Verträge von den Mitarbeitern, die erst vier Monate für die Modekette gejobbt hätten, noch einmal um einige Monate verlängert worden seien.«

Donnerstag, 17. Dezember 2015

Geburtenrate auf dem Höchststand seit der Wiedervereinigung! Fruchtbare Familienpolitik! Ist das wirklich so? Ein Blick auf die Daten zu den demografischen Jubelmeldungen


Das springt ins Auge: Geburtenrate erreicht Höchststand seit 1990, berichtet beispielsweise "Spiegel Online": »Die Menschen in Deutschland bekommen wieder mehr Kinder: Jede Frau im gebärfähigen Alter wird laut den Zahlen aus dem Jahr 2014 statistisch gesehen Mutter von 1,47 Kindern.« Und sogleich werden Mutmaßungen angestellt, wie man das erklären kann: Fruchtbarer Wandel, so hat Karl Doemens seinen Artikel überschrieben: »Die Zahl der Neugeborenen hierzulande steigt: 2015 ist das Jahr mit der höchsten Geburtenrate in Deutschland seit 1990. Die Gründe sind vielfältig, liegen aber vor allem in der Familienpolitik.« Woher er das weiß? Das geht nicht wirklich hervor aus seinem Artikel. Er übernimmt hier gleichsam die offizielle Interpretation: „Die Familienpolitik hat einen positiven Einfluss auf die Geburtenrate“, so wird die Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) in dem Artikel zitiert. »Fachleute nennen das Elterngeld, den Ausbau der Kinderbetreuung und den Bewusstseinswandel bei manchem Arbeitgeber als mögliche Gründe«, so Doemens.

Aber ist das wirklich so? Haben wir tatsächlich die höchste Geburtenrate seit der Wiedervereinigung? Oder ist es wie so oft im Leben etwas komplizierter?

Mittwoch, 16. Dezember 2015

Ein Zwergenaufstand Berliner Sozialrichter gegen das oberste Sozialgericht unseres Landes? (Keine) Sozialleistungen für EU-Ausländer in Deutschland

Auf diesen Gedanken könnte man kommen, wenn man diese Meldung zur Kenntnis nimmt: »EU-Bürger haben nicht automatisch Anspruch auf Sozialleistungen. Das hat das Sozialgericht Berlin jetzt festgestellt und widerspricht ausdrücklich dem Bundessozialgericht«, so Sigrid Kneist in ihrem Artikel Berliner Richter widersprechen dem Bundessozialgericht.
Erst vor kurzem hatte das Bundessozialgericht (BSG) wegweisende Urteile zur Frage des Sozialleistungsbezugs von EU-Ausländern, die sich in Deutschland aufhalten, gefällt. Vgl. dazu meine Blog-Beiträge Griechisch-rumänisch-schwedische Irritationen des deutschen Sozialsystems. Das Bundessozialgericht, die "Hartz IV"-Frage bei arbeitsuchenden "EU-Ausländern" und eine Sozialhilfe-Antwort vom 3.12.2015 sowie Die Angst der Kommunen vor einem weiteren Ausgabenschub und zugleich grundsätzliche Fragen an eine Bypass-Auffangfunktion der Sozialhilfe nach SGB XII vom 6.12.2015.

Dienstag, 15. Dezember 2015

Eine sichere Anlage, folgt man neuen Studien: Pflegeheime. Also von oben betrachtet und mit Blick auf die Zukunft. Wobei die bekanntlich immer unsicher ist

Am 29. September 2015 wurde in diesem Blog im Beitrag Immer mehr davon. Der Bedarf an zusätzlichen Pflegeheimplätzen in den Bundesländern. Ein weiterer Blick in die Pflegeinfrastruktur-Glaskugel berichtet über eine neue Studie des Instituts der deutschen Wirtschaft (IW), in der versucht wird, die (möglichen) Auswirkungen der angenommenen Entwicklung der Zahl der Pflegebedürftigen auf die Pflegeinfrastruktur zu bestimmen - und dies dann differenziert nach den Bundesländern. Die Studie im Original: Susanna Kochskämper und Jochen Pimpertz: Herausforderungen an die Pflegeinfrastruktur, in: IW-Trends Heft 3/2015, S. 59-75. Die präsentierten Zahlen beeindrucken: 2,6 Millionen Menschen waren 2013 in Deutschland pflegebedürftig, diese Zahl dürfte nach den IW-Schätzungen bis zum Jahr 2030 um bis zu 828.000 steigen. Bundesweit müssen dafür bis zu 220.000 Plätze mehr in Pflegeheimen geschaffen werden. Aber wie kann das sein angesichts der vielen Berichte, dass die Menschen immer länger zu Hause verbleiben (bis es gar nicht mehr geht) und der Fokus der Politik angeblich auf der Stärkung der ambulanten Versorgung der Pflegebedürftigen liegt? Dazu die IW-Wissenschaftler: »Anders als die Bundesregierung gehen die Wissenschaftler nicht davon aus, dass Heimpflege zunehmend „out“ werden und der Anteil von ambulant erbrachter Pflege durch Angehörige oder Nachbarn in Zukunft merklich steigen könnte. Im Gegenteil: Bundesweit sei eher ein Trend zu mehr professioneller Pflege zu beobachten ... Zu berücksichtigen seien zudem eine weiter steigende Erwerbstätigenquote von Frauen und die wachsende Zahl von Alleinstehenden und Kinderlosen,« so Rainer Woratschka in einem Artikel über die IW-Studie.

Montag, 14. Dezember 2015

100 Prozent Sozialabbau oder doch eine innovative Durchbrechung des Entweder-Oder? Zur Debatte über die Vorschläge einer Teil-Krankschreibung

Vor kurzem hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der Entwicklung im Gesundheitswesen im Auftrag der Bundesregierung ein Sondergutachten zum Thema Krankengeld vorgelegt und darin revolutionär daherkommende Vorschläge zur Veränderung der bisherigen Praxis der Krankschreibung von Arbeitnehmern, die dem Entweder-Oder-Modell folgt, zur Diskussion gestellt. Vgl. hierzu den Blog-Beitrag Ein Viertel Krankschreibung könnte doch auch mal gehen. Experten haben sich Gedanken über das Krankengeld gemacht vom 07.12.2015. »An erster Stelle der 13 Vorschläge steht die Teilkrankschreibung nach schwedischem Modell. Statt der in Deutschland geltenden „Alles-oder-nichts-Regelung“ könnte ein Arbeitnehmer je nach Schwere der Erkrankung und in Abstimmung mit seinem Arzt zu 100, 75, 50 oder 25 Prozent krankgeschrieben werden«, so Andreas Mihm in seinem Artikel Braucht Deutschland den Teilzeit-Kranken?

Dieser Vorschlag ist vielerorts auf Skepsis und Ablehnung gestoßen. So bilanziert der Beitrag In Zukunft nur noch teil-krank? Abschied von der Arbeitsunfähigkeit im Betriebsrat Blog: »Worin die angepriesene Flexibilität für Arbeitnehmer liegt und welche Vorteile ihnen die Neuregelung bietet, bleibt erstmal unklar. Sehr greifbar sind dagegen bereits jetzt die Nachteile, denn der Druck auf die Beschäftigten wird durch derartige Regelungen unweigerlich zunehmen. Bereits beim Arztbesuch geriete man als Kranker zukünftig in eine Art Verhandlungssituation: 100% oder vielleicht doch nur 75%? Oder sogar nur 50? Wieviel soll’s denn sein? Und anschließend geht es dann mit der Rechtfertigung bei den Kollegen und Vorgesetzten weiter: Denn mit nur 25% teil-krank ist man ja eigentlich gefühlt noch ziemlich gesund und mit 50% irgendwie noch nicht so richtig voll-krank. Wie krank aber ist krank?« Die Schlussfolgerung überrascht dann nicht: »Unterm Strich erweisen sich die Vorschläge jedenfalls als zu 50% unausgegoren, zu 75% praxisfern und darüberhinaus zu vollen 100% als sozialunverträglich. Dennoch: Der Angriff auf die sozialen Systeme und Standards hat schon vor längerer Zeit begonnen. Dies hier dürfte ein Teil davon sein. Da wird noch einiges kommen.«

Sonntag, 13. Dezember 2015

Sinnvolle und mehr als fragwürdige Vorschläge im Windschatten der Flüchtlingsdebatte. Und dann die Sprach- und Integrationskurse mal wieder

Man kann sein Vollzeit-Leben derzeit verbringen nur mit dem Sammeln der Vorschläge, wie es gelingen könnte, "die" Flüchtlinge in absehbarer Zeit in den Arbeitsmarkt zu bekommen. Wobei diese Perspektive an sich schon mehr als verengt daherkommt, wenn die - zugegeben  mit hoher Symbolkraft ausgestattete - Zahl von einer Million Menschen, die allein in diesem Jahr als Flüchtlinge zu uns gekommen sind, als Maßstab für eine anstehende Arbeitsmarktintegration verwendet wird, beispielsweise in einem Vorstoß des Verbandes Die Familienunternehmer, die ausdrücklich auf dieser durch alle Medien verbreiteten Zahl aufsetzen und ein Diskussionspapier vorgelegt haben mit dem bezeichnenden Titel: 1 Million neue Arbeitsplätze – wie schaffen wir das? Es ist eben nicht kleinlich, an dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass wir eben nicht eine Million Arbeitsplätze für die eine Million Flüchtlinge brauchen (werden), denn hinter dieser Zahl verbergen sich eben nicht nur arbeitsfähige bzw. -willige Menschen, sondern auch viele Kindern und die, die sich um diese kümmern und die auf absehbare Zeit gar keine Arbeitsmarktintegration wollen oder brauchen. Das wird - vor allem, wenn sich in den vor uns liegenden Jahren der Familiennachzug ausbreiten wird - noch erhebliche Diskussionen auslösen und angesichts der Tatsache, dass diese arbeitsmarktlicht gesehen "inaktiven" Teile über Transferleistungen finanziert werden, kann das ein zentrales Einfallstor werden für die Kräfte, denen an einer Skandalisierung und Problematisierung gelegen ist. Nur - die Finanzierung des Lebensunterhalts dieser Menschen ist unvermeidlich und sollte nicht verschwiegen werden.

Samstag, 12. Dezember 2015

Menschen ohne Bleibe haben ein Recht auf Unterbringung. Das scheint normal, ist es aber in der Wirklichkeit offensichtlich nicht. Deshalb gibt es dazu jetzt ein Rechtsgutachten


Jetzt ist sie wieder da, die kalte Jahreszeit. Und bei vielen Menschen wird in den kommenden Monaten wieder in Erinnerung gerufen werden, dass es Menschen gibt, die auf der Straße leben (müssen). Und wenn es schlimm kommt, dann wird wieder der eine oder andere Mensch erfrieren und für einen kurzen Moment wird es Betroffenheit geben. Zugleich wird man zur Kenntnis nehmen müssen, dass zum einen gerade in den Großstädten Notunterkünfte fehlen, um die Menschen wenigstens in der Nacht versorgen zu können, auf der anderen Seite wird man immer wieder hören oder lesen, dass solche Schlafplätze, wenn sie denn vorhanden sein sollten, nicht in Anspruch genommen werden - mit den dann Betroffenheit erzeugenden Folgen, aber auch der immer wieder mitschwingenden Frage, warum man denn dieses Risiko auf sich genommen hat. Dass nicht wenige Obdachlose Hunde haben, deren Mitnahme oftmals verboten ist, wissen dann nur wenige. Dass manche Obdachlose schlichtweg Angst haben, beklaut oder gar geschlagen zu werden in der Enge der Notunterkünfte, sei hier hier nur als weiterer Aspekt erwähnt.

Wie dem auch sei. Thema dieses Beitrags ist ein neues Rechtsgutachten, das Karl-Heinz Ruder anlässlich der der Bundestagung der BAG Wohnungslosenhilfe e.V. in Berlin vom 9.-11. November 2015, „Solidarität statt Konkurrenz – entschlossen handeln gegen Wohnungslosigkeit und Armut“, vorgelegt hat. »Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) hat kürzlich einen Anstieg der Zahl der Obdachlosen von derzeit geschätzt 335.000 auf über eine halbe Million im Jahr 2018 prognostiziert. Betroffen sind immer häufiger auch Geflüchtete und Arbeitsuchende aus ärmeren EU-Staaten«, so Susan Bonath in ihrem Artikel Polizei gegenüber Obdachlosen in der Pflicht. »Muss Betroffenen geholfen werden, wenn sie Hilfe suchen? Ja, meint der Rechtsanwalt Karl-Heinz Ruder aus Emmendingen (Baden-Württemberg) in einem aktuellen Gutachten, das er für die BAG W erstellt hat ...  Ruder sieht als letzte Instanz, an die sich Betroffene wenden können, die Polizei in der Pflicht.«

Freitag, 11. Dezember 2015

Hartz IV ist eigentlich zu niedrig, aber ... Neues aus einem mehr als 40 Mrd. Euro schweren "System", in dem man zuweilen sehr unsystematisch für eine ganz bestimmte "Ordnung" sorgt

Eigentlich müsste man, aber ... Das Muster kennt man von vielen sozialpolitischen Baustellen. Vor wenigen Tagen wurde hier berichtet: Zahlen können geduldig sein. Hartz IV ist nach den vorliegenden Daten zu niedrig, doch bei den eigentlich notwendigen Konsequenzen sollen sich die Betroffenen - gedulden. Da ging es um die Tatsache, dass eigentlich eine Neuberechnung der Hartz IV-Leistungen erforderlich ist angesichts der Tatsache, dass die neuen Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe 2013 mittlerweile vorliegen und die bisherigen Leistungen noch auf der Datengrundlage der EVS 2008 bemessen worden sind, so dass eine Anpassung erfolgen müsste, wenn der Gesetzgeber seine eigene Vorschrift im § 28 SGB XII "Ermittlung der Regelbedarfe" umsetzen würde. Will er auch, aber eben nicht so schnell: Mit einer Erhöhung der Regelsätze aufgrund der neuen Daten können die Hartz IV-Empfänger erst Anfang 2017 rechnen, denn - so das Bundesarbeitsministerium -  zunächst werde man die Ergebnisse der EVS prüfen und bei den Statistikern neue Sonderauswertungen in Auftrag geben. Bloß nichts überstürzen. Das an sich ist schon mehr als kritikwürdig.

Nunmehr erreicht uns eine weitere Hiobsbotschaft für die eigentlich erforderliche sorgfältige Systematik bei der Bestimmung der Leistungen, mit denen immerhin das "soziokulturelle Existenzminimum" abgesichert werden soll: Nahles wegen Hartz-IV-Berechnung in der Kritik, so beispielsweise Thomas Öchsner in der Süddeutschen Zeitung. Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles lässt die Hartz-IV-Sätze nach einem Modell berechnen, dass schon Vorgängerin Ursula von der Leyen verwendete. Diese Berechnungsmethode hatte Nahles vor Jahren heftig kritisiert. Neben der Tatsache, dass wir wieder einmal Zeuge werden müssen, dass das Motto "Was schert mich mein Geschwätz von gestern" offensichtlich eine Konstante im politischen Geschäft ist, geht es hier um das "Eingemachte" im Grundsicherungssystem.

Mittwoch, 9. Dezember 2015

Das Bundesarbeitsgericht und die Nachtarbeiter. Mindestens 25 Prozent Nachtarbeitszuschlag auch da, wo keine tarifvertraglichen Regelungen bestehen

Immer öfter wird abends oder nachts gearbeitet, so das Statistische Bundesamt in einem Beitrag über Abend- und Nachtarbeit. Der Anteil der Erwerbstätigen, die abends (= zwischen 18 und 23 Uhr) arbeiten, ist zwischen 1992 (15 Prozent) und 2014 (26 Prozent) um zehn Prozentpunkte gestiegen. Der Anteil derjenigen, die regelmäßig nachts (= zwischen 23 und 6 Uhr) arbeiten, hat von 7 Prozent auf 9 Prozent zugenommen. Männer arbeiteten dabei fast doppelt so häufig nachts (11 Prozent) wie Frauen (6 Prozent). Über die gravierenden Folgen regelmäßiger Nachtarbeit wird seit langem berichtet, vgl. beispielsweise den Artikel Irgendwann macht der Körper schlapp oder die von der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung publizierte Übersichtsarbeit Schichtarbeit. Rechtslage, gesundheitliche Risiken und Präventionsmöglichkeiten. Da sollte man meinen, dass wenigstens eine monetäre Zusatzvergütung oder eine angemessene Anzahl bezahlter freier Tage für die Arbeitnehmer selbstverständlich ist, wenn sie zu diesen Zeiten arbeiten müssen. Dem ist aber offensichtlich nicht durchgängig so, was das Bundesarbeitsgericht in einer neuen Entscheidung aufgegriffen hat.

Dienstag, 8. Dezember 2015

Das bedingungslose Grundeinkommen könnte kommen - möglicherweise, in Finnland. Und dann erst einmal als "experimentelles Pilotprojekt"

Das wird der Debatte über ein bedingungsloses Grundeinkommen sicher einen Schub verleihen: »Die finnische Regierung bereitet offenbar ein monatliches Grundeinkommen für jeden Erwachsenen vor«, berichtet die FAZ in dem Artikel 800 Euro Grundeinkommen – für jeden.
Die Verwaltung arbeite derzeit an einem detaillierten Plan, berichtet der Internet-Dienst Quartz: Finland is considering giving every citizen a basic income. Eine konkrete Gesetzes-Vorlage kommt demnach wohl nicht vor November 2016. Aber wenn sie dann auf die Tagesordnung gelangt, könnten die bisher bestehenden Sozialleistungen Geschichte sein und durch das  monatliche Grundeinkommen in Höhe von 800 Euro für jeden Erwachsenen ersetzt werden.

Eine aktuelle von der finnischen Sozialversicherung Kela in Auftrag gegebene Umfrage zeigt: Danach finden beinahe 70 Prozent der Finnen die Idee gut. Und auch Regierungschef Juha Sipilä wirbt dafür: „Für mich bedeutet ein Grundeinkommen eine Vereinfachung des sozialen Sicherungssystems“, wird er zitiert. Vgl. dazu auch den Artikel Finland considers basic income to reform welfare system.

Montag, 7. Dezember 2015

Ein Viertel Krankschreibung könnte doch auch mal gehen. Experten haben sich Gedanken über das Krankengeld gemacht


Entweder-oder. Alles-oder-nichts. 100 Prozent ja oder 100 Prozent nein. Das ist der Algorithmus, wenn es um die Arbeitsunfähigkeit in Deutschland geht. Und damit um ein Thema, das auf der einen Seite höchst elementar für die Arbeitnehmer ist, denn die meisten waren schon mal krank geschrieben - sei es wegen einer Grippe oder wegen komplizierter Erkrankungen. Und dann will man nicht wegen der Erkrankung ins materiell Bodenlose fallen müssen, sondern selbstverständlich braucht man eine Absicherung für das eigene und bei den meisten Arbeitnehmern auch das einzige Vermögen - die Einnahmen aus dem Verkauf der Arbeitskraft. Deshalb hat man in der Vergangenheit, also der Sozialstaat auf- und ausgebaut wurde, die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall durchgesetzt. Der Regelfall heute: 6 Wochen lang muss der Arbeitgeber die Bezüge weiterzahlen. Sollte dann die Arbeitsunfähigkeit weiter anhalten, dann rutschen die Betroffenen in den Krankengeldbezug (70 Prozent des letzten Bruttogehalts und damit schon deutlich weniger als vorher bei der Lohnfortzahlung). Die Krankenkassen wiederum müssen diese Leistung finanzieren aus ihren Beitragseinnahmen. Aber es gibt - das soll hier nicht verschwiegen werden - noch eine andere Dimension der Krankschreiben, die immer mehr oder weniger explizit mitschwingt, zuweilen auch mal die Oberhand zu gewinnen scheint: Gemeint ist der Vorwurf bis hin zur Tatsache, dass es Zeitgenossen gibt, die sich einen "blauen Montag" machen oder auch zwei. Also Arbeitsunfähigkeit vortäuschen, um nicht arbeiten zu müssen. Sicher und bei weitem nicht die Mehrheit, aber es gibt auch diese Exemplare.

Sonntag, 6. Dezember 2015

Die Angst der Kommunen vor einem weiteren Ausgabenschub und zugleich grundsätzliche Fragen an eine Bypass-Auffangfunktion der Sozialhilfe nach SGB XII

Das war zu erwarten und es wird noch deutlich schriller werden, wenn alle die aktuellen Entscheidungen des Bundessozialgerichts zur Frage nach dem Sozialhilfeanspruch bestimmter EU-Ausländer nachvollzogen haben - vgl. zum Hintergrund den Beitrag Griechisch-rumänisch-schwedische Irritationen des deutschen Sozialsystems. Das Bundessozialgericht, die "Hartz IV"-Frage bei arbeitsuchenden "EU-Ausländern" und eine Sozialhilfe-Antwort vom 3.12.2015. Am Ende dieses Beitrags findet sich die folgende erste Bewertung:

»Das BSG bestätigt zwar den Leistungsausschluss mit Blick auf das SGB II, also das "Hartz IV"-System. Es fügt aber die Kategorie des "verfestigten Aufenthalts" in das komplizierte Sozialleistungsanspruchsgefüge ein. Und wenn das gegeben ist, dann müssen Sozialhilfeleistungen nach SGB XII gezahlt werden. Zehntausende EU-Ausländer haben in Deutschland nach den heutigen Entscheidungen des BSG Anspruch auf Sozialhilfe: Zwar gelte der bestehende Ausschluss von Hartz-IV-Leistungen weiter, spätestens nach sechs Monaten Aufenthalt in Deutschland aber muss die Sozialhilfe einspringen. In den Worten des Gerichts: »Im Falle eines verfestigten Aufenthalts - über sechs Monate - ist (das) Ermessen aus Gründen der Systematik des Sozialhilferechts und der verfassungsrechtlichen Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts in der Weise reduziert, dass regelmäßig zumindest Hilfe zum Lebensunterhalt in gesetzlicher Höhe zu erbringen ist.«
Das wird die Kommunen nicht erfreuen, denn die Sozialhilfeleistungen nach dem BSHG sind - anders als der größte Teil der SGB II-Leistungen - kommunale Leistungen, also von den Gemeinden auch zu finanzieren.«

Und genau an dieser Stelle setzt nun eine erste Kritiklinie an: Bereits unmittelbar im Anschluss an das Urteil konnte man in der für die FAZ bei solchen Themen typischen subkutanen Übertreibung durch die Art und Weise der Formulierung in der Überschrift die Meldung lesen: Milliardenkosten durch Sozialhilfe für EU-Ausländer? Übertreibung deshalb, weil es auch nach der ersten bislang vorgelegten Hochrechnung der möglichen Empfängerzahlen von an dramatischen Werten interessierter Seite nicht um Milliarden geht, sondern um eine kleinere, dennoch für die, die zahlen müssen, erhebliche Ausgabesumme.

Donnerstag, 3. Dezember 2015

Griechisch-rumänisch-schwedische Irritationen des deutschen Sozialsystems. Das Bundessozialgericht, die "Hartz IV"-Frage bei arbeitsuchenden "EU-Ausländern" und eine Sozialhilfe-Antwort


Da kann man aber auch durcheinander kommen. Noch im September dieses Jahres wurde mit teilweise sehr hemdsärmeligen Überschriften wie Jobsuchende EU-Bürger haben kein Recht auf Sozialhilfe oder Deutschland darf EU-Zuwanderern Sozialhilfe verweigern oder Deutschland darf EU-Zuwanderer von Hartz IV ausschließen über eine Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) berichtet (es ging um das  Urteil in der Rechtssache C-67/14 Jobcenter Berlin Neukölln / Nazifa, Sonita, Valentina und Valentino Alimanovic vom 15.09.2015).

Und heute wird über mehrere Entscheidungen des Bundessozialgerichts (BSG) berichtet, die den einen oder anderen wieder verwirren werden: EU-Ausländer haben Anspruch auf Sozialhilfe, meldet die Online-Ausgabe der FAZ dazu. Ja was denn nun? Haben sie nun Anspruch oder nicht? Wie immer, wenn es um Rechtsfragen geht, muss die Antwort a) wohlüberlegt, b) so kompliziert wie nötig und c) differenziert ausfallen - man könnte den letzten Punkt auch unter dem Motto "Es kommt darauf an" subsumieren. Das BSG selbst versucht uns schon mit der kompakt daherkommenden Überschrift der Pressmitteilung aus dem hohen Haus auf die richtige Interpretationsspur zu setzen: Ausschluss von SGB II-Leistungen für Unionsbürger - Sozialhilfe bei tatsächlicher Aufenthaltsverfestigung. Damit gelingt der Hinweis auf ein tatsächlich tiefsinnig angelegtes Urteil in einer komplexen Frage.

Mittwoch, 2. Dezember 2015

Viele Kaiserschnitte, zu wenig Kinderchirurgen und immer wieder das Fallpauschalensystem der Krankenhausfinanzierung


Im vergangenen Jahr ist fast jedes dritte Kind in Deutschland per Kaiserschnitt zur Welt gekommen. Allerdings streuen bereits zwischen den Bundesländern die Anteile der Kaiserschnitt-Entbindungen erheblich - sie liegen zwischen sehr hohen 40,2 Prozent im Saarland am oberen und 24,2 Prozent in Sachsen am unteren Ende. Die Weltgesundheitsbehörde (WHO) empfiehlt eine Kaiserschnittrate von maximal 15 Prozent - wobei man diesen Wert sicher mit Vorsicht genießen sollte, denn der Anteil wird auch höher ausfallen können/müsssen, wenn man beispielsweise eine Gesellschaft (wie die unsere) betrachtet, in der viele ältere Frauen entbinden oder Mehrlingsschwangerschaften verbreiteter sind. Die zwischen den Bundesländern aufgezeigten Spannweiten bei den Anteilswerten setzen sich innerhalb der Bundesländer fort: Für Nordrhein-Westfalen wird ein Wert von 32,8 Prozent ausgewiesen. Der aber schwankt erheblich, wenn man auf die lokale Ebene runtergeht: Die landesweit höchste Quote wird im Kreis Olpe mit über 43 Prozent erreicht. Bonn, Paderborn und der Rhein-Sieg-Kreis hingegen kommen auf Kaiserschnitt-Quoten unter 26 Prozent. Und mit Blick auf die zurückliegenden Jahre muss man feststellen: Seit 2000 ist der Anteil der Kaiserschnitte um zehn Prozentpunkte auf 32,8 Prozent gestiegen. Das und mehr kann man dem Artikel Fataler Trend zu Kaiserschnitt-Geburten in NRW von Wilfried Goebels entnehmen.
Der Artikel stützt sich auf einen vom Ministerium für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen herausgegebenen Abschlussbericht über die Arbeit des Ende 2013 eingesetzten "Runder Tisch Geburtshilfe".

Montag, 30. November 2015

Zahlen können geduldig sein. Hartz IV ist nach den vorliegenden Daten zu niedrig, doch bei den eigentlich notwendigen Konsequenzen sollen sich die Betroffenen - gedulden

Ein gewichtiger Teil der Berichterstattung dreht sich überwiegend um "Arbeitslose" und dann auch noch in Gestalt ihrer absoluten Untergrenze, also der offiziell registrierten Arbeitslosen, deren Größenordnung einmal monatlich von der Bundesarbeitslosenverwaltung in Nürnberg verkündet wird. Da erfährt man dann: »Die Zahl der arbeitslosen Menschen ist von September auf Oktober um 59.000 auf 2.649.000 gesunken.« Die meisten Journalisten brechen an dieser Stelle ab und tragen die tatsächlich quantitativ erfreulich rückläufige Zahl in die Öffentlichkeit. Wenn sie doch wenigstens die schon "richtigere" Zahl nennen würden, die von der BA ebenfalls publiziert wird: »Die Unterbeschäftigung, die auch Personen in entlastenden arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen und in kurzfristiger Arbeitsunfähigkeit mitzählt ... belief sich ... im Oktober 2015 auf 3.476.000 Personen.«

Das sind immerhin 827.000 Menschen mehr als die Zahl, die dann über die Presse verbreitet wird - und arbeitslos sind die nun wirklich auch. Aber es geht in diesem Beitrag gar nicht um die Zahl der Arbeitslosen, sondern um eine andere, die 70% der ausgewiesenen "offiziellen" Arbeitslosen beinhaltet: um die Zahl der Hartz IV-Empfänger. Und die liegt derzeit bei fast 6,1 Millionen Menschen. Das ist nun eine ganze andere "Gewichtsklasse" und vielen - auch in den Medien - ist gar nicht bewusst, dass es so viele sind, die auf Leistungen aus dem Grundsicherungssystem (SGB II) angewiesen sind. Immerhin zehn Prozent der Menschen in unserem Land sind auf Hartz IV-Leistungen existenziell angewiesen. Und die tragenden Säulen dieser Leistungen sind zum einen der "Regelbedarf zur Sicherung des Lebensunterhalts" - das sind die derzeit noch 399 Euro pro Monat für einen Alleinstehenden - sowie die Bedarfe für Unterkunft und Heizung. Für Wohnkosten bekommt ein Alleinstehender derzeit im Durchschnitt gut 300 Euro. Am 1. Januar 2016 wird der Regelsatz um 5 Euro auf 404 Euro erhöht. Die jährlich vorzunehmende Dynamisierung hängt zu 70 Prozent von der Preisentwicklung und zu 30 Prozent von der Lohnentwicklung ab.

Samstag, 28. November 2015

Drohende Versicherungslosigkeit eines Teils der Hebammen vorerst vermieden. Aber das kostet was

Immer wieder war das mal Thema: Die Hebammen und ihre Versicherung. Genauer: Ein Teil der freiberuflich tätigen Hebammen, die geburtshilflich unterwegs sind, waren und sind konfrontiert mit dem Tatbestand, dass die Haftpflichtversicherungsprämien in den vergangenen Jahren exorbitant angestiegen sind und zugleich drohte die reale Gefahr, dass es selbst zu den gestiegenen Prämien gar nicht mehr genügend Anbieter solcher Versicherungen geben könnte. Das hätte und würde das Aus für Hebammen bedeuten, die eine Hausgeburt begleiten können. Nun kann man sich auf den Standpunkt stellen, dass das eigentlich gar nicht so verkehrt wäre, denn die werdenden Mütter haben die Möglichkeit, in einer Klinik zu entbinden und das sei sowieso sicherer und besser für die Geburtshilfe an sich. Auf der anderen Seite gibt es den Standpunkt, dass das ach weiterhin eine freie Wahlentscheidung bleiben sollte und wenn man erst einmal die Infrastruktur der freiberuflichen Begleitung einer Hausgeburt zerstört hat, dass dann eine Rückkehr nicht mehr möglich sei.

Im vergangenen Jahr tobte eine intensive Debatte nicht nur über die immer weiter und stark ansteigenden Versicherungsbeiträge für diese Hebammen, sondern auch über eine drohende Versicherungslosigkeit aufgrund des Ausstiegs von Versicherungsunternehmen aus diesem dann insgesamt doch sehr kleinteiligen Geschäftsfeld. Behandelt wurde diese Thematik auch in diesem Blog, beispielsweise in den Beiträgen Hebammen allein gelassen. Zwischen Versicherungslosigkeit ante portas und dem Lösungsansatz einer Sozialisierung nicht-mehr-normal-versicherbarer Risiken vom 17.02.2014 sowie Hebammen nicht mehr allein gelassen? Der Berg kreißte und gebar eine Maus oder ein Geschäft zu Lasten Dritter? Die Hebammen und ihre fortschreitende Versicherungslosigkeit, die vorläufig unter dem Dach der Krankenkassen geparkt werden soll. Bis zur nächsten Runde vom 04.05.2014. In dem letzten Beitrag wurde darauf hingewiesen, »ohne Bewegung in Richtung auf eine "große Kollektivierung" wird das Problem bestehen bleiben, dass die privaten Versicherungen ihre betriebswirtschaftlich durchaus nachvollziehbaren Konsequenzen aus einer Teilsozialisierung der bei ihnen ansonsten anfallenden Kosten ziehen werden: Sie werden an der Prämiensschraube drehen.«

Donnerstag, 26. November 2015

Die zwei Welten des (Nicht-)Personalmangels in der Krankenhauspflege

Es ist schon so viel geschrieben und damit gesagt worden zum Thema Pflegekräftemangel in den Krankenhäusern unseres Landes. Man mag eigentlich nicht mehr, aber dieser Impuls kann und darf nur ein vorübergehender sein, wenn man sich die vielen Hilferufe aus der Pflege anhören muss, die den erreichen, der hinhört und hinhören will. Man könnte an dieser Stelle darauf hinweisen, dass doch in zahlreichen Studien immer wieder der heute schon manifeste und sich weiter zuspitzende Pflegemangel nicht nur in der Altenpflege, sondern auch in vielen Kliniken herausgearbeitet worden ist - und das dringender Handlungsbedarf besteht. Zuweilen ist es mehr als aufschlussreich, ganz nach unten zu gehen und sich den Verhältnissen und deren Interpretation vor Ort anzuschauen, um einen Eindruck zu bekommen, wie "auf Kante genäht" viele Pflegekräfte ihren Arbeitsalltag offensichtlich verbringen müssen - und zugleich, wie die Verantwortlichen in ihrer Welt agieren und argumentieren.

Mittwoch, 25. November 2015

Amazon mal wieder. Der aufrechte Kampf der einen bei uns und die konsequent-schrittweise Abnabelung der Effizienzmaschine vom Standort Deutschland

Gerade in einer Zeit, in der täglich irgendeine neue Sau durchs mediale Dorf getrieben wird, auf die sich dann alle anderen stürzen, als gäbe es nur dieses Thema, ist es notwendig, an Dinge zu erinnern, die vor geraumer Zeit mal Thema waren und mittlerweile in den Archiven vor sich hin modern. Obgleich sie weiter vorangetrieben werden und sich das damalige Bild zu verdichten scheint. Zeigen kann man das am Beispiel des Unternehmens Amazon.

Auslöser sind solche Meldungen, die dem einen oder anderen vorkommen wie ein Ausschnitt aus dem Film "Und täglich grüßt das Murmeltier": Ver.di ruft zu Streik bei Amazon in Koblenz auf: »Mit einem erneuten Streik will die Gewerkschaft den Konzern drängen, die Tarifverträge des Einzelhandels anzuerkennen. Der Ausstand sollte in der Nacht beginnen.« Und nachfolgend: Verdi bestreikt erneut Versandzentren: »Vor dem Beginn des Weihnachtsgeschäfts macht die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi noch einmal mit Streiks in den deutschen Versandzentren Druck auf den Online-Versandhändler Amazon. Verdi rief am Mittwoch an den Standorten im hessischen Bad Hersfeld, in Leipzig sowie in Rheinberg und Werne in Nordrhein-Westfalen zu Arbeitsniederlegungen vom frühen Morgen bis zum Ende der Spätschicht auf.« Die wackeren Gewerkschaftsmitglieder versuchen es seit Jahren. Bislang ohne nennenswerten Erfolg, sie beißen auf Granit bei dem amerikanischen Konzern.

Montag, 23. November 2015

Immer mehr arbeitslose Menschen in finanziellen Nöten. Jobcenter, die mit Darlehensrückforderungen das Existenzminimum beschneiden. Eine Bundesagentur für Arbeit, die Mitarbeiter in "Telefoninkasso" schult. Und Normalbürger, die Sozialrichter spielen dürfen

Zugegeben - die Überschrift zu diesem Blog-Beitrag ist nicht twitter-fähig. Zu viele Zeichen. Aber kürzer geht's eben nicht. Nicht bei den Themen, die hier angerissen werden müssen. Es geht um einen Blick in die unteren Etagen des Sozialstaats.

Beginnen wir mit den handfesten materiellen Sorgen eines größer werdenden Teils der Arbeitslosen: »Im vergangenen Jahr hatte nach Zahlen des Statistischen Bundesamtes jeder dritte Erwerbslose – exakt waren es 34,6 Prozent – finanzielle Schwierigkeiten, mindestens jeden zweiten Tag eine vollwertige Mahlzeit einzunehmen. Innerhalb eines Jahres stieg die Zahl der Betroffenen um 48 000 auf 1,07 Millionen«, so der Artikel Viele Arbeitslose können sich kein Essen leisten. »Jeder fünfte Erwerbslose (19,1 Prozent) hat sogar Probleme, die Miete oder Rechnungen für Versorgungsleistungen rechtzeitig zu begleichen. Vom Jahr 2013 zum vergangenen Jahr erhöhte sich die Zahl dieser Menschen um 62 000 auf 590 000. Genau 18,4 Prozent der Arbeitslosen konnten aus finanziellen Gründen ihre Wohnung nicht ausreichend heizen.« 2014 haben 30,9 Prozent der Erwerbslosen in Deutschland unter „erheblicher materieller Entbehrung“ gelitten, wie das die Statistiker ausdrücken. Datengrundlage für diese Informationen ist die Leben in Europa (EU-SILC)-Befragung, die in allen EU-Staaten durchgeführt wird.

Sonntag, 22. November 2015

Akademiker sind keine Schweine. Aber sind sie gefangen im Schweinezyklus? Und dann noch Ingenieure und Naturwissenschaftler, die Aushängeschilder eines (angeblichen) Fachkräftemangels?


Wenigstens einige Gewissheiten muss es doch geben. Beispielsweise einen Fachkräftemangel bei den Ingenieuren, die so wichtig sind für die deutsche Volkswirtschaft. Jedenfalls behaupten das viele Unternehmen und vor allem die Wirtschaftsfunktionäre. Und das darf dann nicht fehlen in den Sonntagsreden der Politiker, garniert mit der Aufforderung an junge Menschen, doch bitte ein Studium in den MINT-Fächern (Mathematik, Ingenieurs- und Naturwissenschaften sowie Technik) aufzunehmen - die Aussichten seien himmlisch. Und begleitend legt man zahlreiche Förder- und sonstige Programme auf, Hauptsache, es geht irgendwie um MINT, denn man muss ihn ja bekämpfen, den Fachkräftemangel. Nun gab es schon immer kritische Zeitgenossen, deren differenzierte Vertreter zwar nicht grundsätzlich die Problematik eines möglichen Fachkräftemangels bestreiten, aber darauf hinweisen, dass man da schon genauer hinschauen muss und gerade bei den prominenten Vertretern des angeblichen Mangels - also eben den Ingenieuren - die Lage sehr unterschiedlich ist, was auch damit zusammenhängen kann, dass Arbeitgeber bereits von einem Fachkräftemangel sprechen, wenn auf eine offene Stelle nur noch einige wenige Bewerbungen eingehen, statt wie früher waschkörbeweise. Aus ihrer betriebswirtschaftlichen Sicht ist das verständlich, aber die Bewerber werden das sicherlich anders bewerten.
Und wenn wir schon bei Gewissheiten sind - angehende Ökonomen sollten im ersten Semester bei der Behandlung der Preisbildungsprozesse auf Märkten einen wichtigen Begriff lernen: Schweinezyklus. Aber was hat der Schweinezyklus mit den Akademikern, in diesem Fall vor allem den aus den so im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stehenden MINT-Akademikern zu tun?

Freitag, 20. November 2015

Die Jugendgewalt geht zurück und verschiebt sich zugleich in die Großsiedlungen am Stadtrand. Über verblassende Mythen, die Umrisse deutscher Banlieues und die Bedeutung von Arbeit

Immer wieder ploppt das im Strom der von den Regeln der Aufmerksamkeitsökonomie beherrschten Medien auf, wird an die Spitze der aufgeregt plappernden Medien gespült, um kurz darauf von der nächsten gesellschaftlichen Sau, die durchs Dorf getrieben wird, abgelöst zu werden. Auslöser ist zumeist ein schrecklicher Einzelfall exzessiver Jugendgewalt, auf den sich die Medien stürzen und der allein schon aufgrund der Tatsache, dass alle ein paar Tage lang rauf und runter darüber berichten, bei den Nachrichten- und Kommentar-Konsumenten den Eindruck vermitteln muss, unser Land versinkt in einem Morast außer Kontrolle geratener Gewalt immer hemmungsloser agierender junger Menschen. In Talkshows wird dann darüber geplaudert, wie man die Sicherheit wieder herstellen kann. Aber wie so oft bei diesem monothematischen Herdentrieb vieler Medien fehlt die sorgfältige Nachbeobachtung und die Berichterstattung, wenn es positive Botschaften zu vermelden gibt, vielleicht weil damit die Angst- und Bedrohungsgefühle nicht aktiviert werden können und ohne Skandalisierung kein Geschäft zu machen ist. So setzen sich bestimmte Bilder in den Köpfen fest, etwa die von der - angeblich - stetig zunehmenden Jugendgewalt, von immer enthemmter ihren Aggressionen freien Lauf lassenden Jugendlichen, von der Korrelation der Jugendgewalt mit Migrationshintergrund.

Wie so oft bleibt es dann der unaufgeregten wissenschaftlichen Beobachtung überlassen, die eigentlich relevante Frage zu stellen und Antwortversuche zu geben: Ist das wirklich so? Was kann man - über spektakuläre Einzelfälle hinaus - generell beobachten? Hierzu erreichen uns aus Berlin interessante und sehr aufschlussreiche Befunde.

Mittwoch, 18. November 2015

Vor dem zweiten "Asylpaket": Erbsenzähler und verdruckste Buchhalter unterwegs. Es geht mal wieder um Kosten

Sortieren wir uns zuerst einmal: Immer wieder wird die Erkenntnis vorgetragen, dass die Vermittlung der deutschen Sprache (und darüber hinaus der in unserer Gesellschaft vorhandenen Werte) von zentraler Bedeutung ist für eine gelingende Integration. Und hinsichtlich des Spracherwerbs ist nun eigentlich allen klar, dass man so schnell wie möglich damit anfangen muss, den Menschen einen Zugang zu eröffnen - selbst wenn der eine oder andere nicht hier bleiben kann/darf. Die Sprache ist nun wirklich nachgewiesenermaßen der Flaschenhals für viele weitere Folgeprozesse, wenn man Integration will, beispielsweise die Aufnahme einer Ausbildung oder Beschäftigung.

Vor diesem Hintergrund kann man beim folgenden Sachverhalt nur zu dem Eindruck gelangen: die Erbsenzähler und Korinthenkacker, die verdrucksten Buchhalter sind wieder unterwegs. Und das wäre noch die "nette" Interpretationsvariante.

Es geht - wie kann es anders sein - wieder einmal um Kosten. Um die Kosten der Sprachkurse für Flüchtlinge.

Dienstag, 17. November 2015

Die Zahl der Pflegebedürftigen könnte stärker steigen als bislang erwartet. Der Pflegereport 2015 mit neuen Zahlen und einem Schwerpunktthema zur häuslichen Pflege

Erst vor wenigen Tagen ist die zweite Stufe der Pflegereform im Bundestag verabschiedet worden - vgl. dazu den Blog-Beitrag Die Altenpflege und die Pflegereform II. Auf der einen Seite himmelhoch jauchzend, auf der anderen Seite zentrale Baustellen, auf denen nichts passiert und Vertröstungen produziert werden vom 14.11.2015.

Und kurz darauf wurde nun der Pflegereport 2015, herausgegeben von der Krankenkasse BARMER GEK und verfasst von Heinz Rothgang mit weiteren Autoren, veröffentlicht.  Und eine der Botschaften nach dem Blick in die Glaskugel lautet: »Die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland steigt stärker als bisher vorausgesagt. Im Jahr 2060 werden geschätzt 4,52 Millionen Menschen gepflegt werden. Das sind 221.000 mehr, als bisherige Prognosen erwarten ließen«, kann man der Pressemitteilung zur Veröffentlichung des Reports entnehmen. Die Anpassung der Prognose basiert auf einer Auswertung der Ergebnisse des Zensus 2011, die mit den bisherigen Annahmen verglichen wurden. »Die Studie zeigt zugleich, dass der Anteil hochbetagter Pflegebedürftiger drastisch wachsen wird. 60 Prozent der pflegebedürftigen Männer und 70 Prozent der pflegebedürftigen Frauen werden im Jahr 2060 85 Jahre oder älter sein. Heute liegen die entsprechenden Werte bei 30 beziehungsweise 50 Prozent.«

Montag, 16. November 2015

Die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) hält Wort beim Thema Leiharbeit und Werkverträge

Wobei die richtige Formulierung so lauten muss: Sie hält sich genau an die Worte, die in der Bibel der Großen Koalition niedergeschrieben worden sind, also dem Koalitionsvertrag aus dem Dezember 2013. Es bleibt ihr angesichts ihres nicht mehr vorhandenen Spielraums innerhalb der Großen Koalition hinsichtlich jedweder Regulierungsvorhaben auf dem Arbeitsmarkt - losgelöst von ihrer Sinnhaftigkeit - auch gar nichts anderes übrig, denn die Unionsfraktion würde weitergehende Maßnahmen schon aus Prinzip verhindern. Frau Nahles hat in der ersten Phase mit dem Mindestlohn und der "Rente mit 63" bekommen, was der Sozialdemokratie besonders wichtig war. Also aus Sicht der Koalitionsarithmetiker. Jetzt ist Schluss.

Nun liegt endlich ein Referentenentwurf zu den beiden noch offenen Arbeitsmarkt-Baustellen vor, die man in den Koalitionsverhandlungen als regelungsbedürftig vereinbart hat. Da ist eine Menge Zeit vergangen, waren doch andere Baustellen viel größer und teurer - Rentenpaket 2014 und Mindestlohn. Da mussten sich die Leiharbeit und die Werkverträge hinten anstellen. Nun aber soll es in die gesetzgeberische Zielgerade gehen und - für den einen oder anderen vielleicht irritierend - hat Frank Specht seine Meldung zum Referentenentwurf in der Online-Ausgabe des Handelsblatts so überschrieben: Nahles verlängert Leiharbeitsdauer. War das nicht anders, also genau anders herum geplant gewesen?

Sonntag, 15. November 2015

Profit aus der Pflege verträgt sich nicht mit guten Pflegeheimen. Sagt eine neue Studie. Ist das aber wirklich so?

Diese Botschaft wurde von vielen Medien gerne aufgegriffen, bedient sie doch plausibel daherkommende Einschätzungen, die man auch ohne empirische Fundierung vor dem inneren Auge hat: Betreuung in profitorientierten Pflegeheimen oft schlechter, konnte man beispielsweise der Online-Ausgabe des Deutschen Ärzteblatts entnehmen: »Die Pflegequalität ist in profitorientierten Pflegeheimen in Deutschland schlechter als in nicht-profitorientierten Einrichtungen. Das berichtet eine Forscher­gruppe um den Gesundheitssystemforscher Max Geraedts vom Institut für Gesundheitssystemforschung der Universität Witten/Herdecke. Ihre Ergebnisse sind in der Zeitschrift Aging International erschienen.« Es handelt sich hierbei um die Studie Trade-off Between Quality, Price, and Profit Orientation in Germany’s Nursing Homes von Max Geraedts , Charlene Harrington, Daniel Schumacher und Rike Kraska.

Eine Überlegung ohne jede Studie, die eine vergleichbare Einschätzung auslösen wird, geht so: Wenn man bedenkt, dass der größte Kostenblock in der Altenpflege die Personalkosten sind und wir uns in einem System der administrierten Preise bewegen, bei denen zwar individuelle Pflegesätze verhandelt werden, diese sich aber a) in einer Bandbreite der anderen Pflegesätze in dem jeweiligen Bundesland bewegen müssen und b) auch Steigerungen sich nicht an realen Kostensteigerungen (z.B. durch höhere Vergütungen beim Personal) orientieren, sondern vor allem an den Budgetsteigerungen der Pflegeversicherung als maßgeblicher Verhandlungspartner, dann wird schnell erkennbar, dass man an den Personalkosten herumschrauben muss, wenn man gleichzeitig einen wie auch immer hohen Profit aus der Pflege ziehen will oder muss, weil man beispielsweise ein an der Börse notierter Pflegeheimbetreiber ist. Letztendlich gibt es dann in einer solchen Konstellation einen starken Anreiz, die Qualität der Pflege, die über das Personal läuft, abzusenken, denn dazu muss es kommen, wenn man beispielsweise die Quantität und/oder die Qualität der Pflegekräfte reduziert oder es aufgrund der schlechten Rahmenbedingungen zu einer hohen Fluktuation kommt.

Samstag, 14. November 2015

Die Altenpflege und die Pflegereform II. Auf der einen Seite himmelhoch jauchzend, auf der anderen Seite zentrale Baustellen, auf denen nichts passiert und Vertröstungen produziert werden

Es ist vollbracht. Auch die zweite Stufe der Pflegereform hat die parlamentarischen Hürden genommen und das „Zweite Pflegestärkungsgesetz“ wurde im Bundestag verabschiedet. Auf der Mitteilungsseite des Bundestags zu den Beschlüssen liest sich das bürokratisch-trocken so: »Gegen das Votum der Linken bei Enthaltung der Grünen hat der Bundestag am 13. November den zweiten Gesetzentwurf der Bundesregierung zur Stärkung der pflegerischen Versorgung und zur Änderung weiterer Vorschriften (18/5926, 18/6182) in der vom Gesundheitsausschuss geänderten Fassung (18/6688) angenommen. Damit wird ein neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff und ein neues Begutachtungsinstrument mit fünf Pflegegraden eingeführt. Dadurch sollen die Inhalte der Pflegeversicherung und die pflegerische Leistungserbringungen auf eine neue pflegefachliche Grundlage gestellt werden. Erstmals werden alle für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit relevanten Kriterien in einer einheitlichen Systematik erfasst. Ergänzt und neu strukturiert werden die Vorschriften zur Sicherung und Entwicklung der Qualität in der Pflege. Der Beitragssatz der sozialen Pflegeversicherung wird um 0,2 Beitragssatzpunkte erhöht.« Immerhin kann man der Mitteilung entnehmen, dass es nicht nur eine Große Pflegekoalition gibt, sondern auch die beiden Oppositionsparteien hatten – erwartungsgemäß erfolglos – versucht, den Finger auf weiter offene Wunden zu legen: der Finanzierung des Systems und der Personalfrage:

»Gegen die Stimmen der übrigen Fraktionen scheiterte Die Linke mit ihrem Entschließungsantrag (18/6692), einen Gesetzentwurf zur Einführung eines neuen Pflegebegriffs vorzulegen. Mit dem gleichen Stimmenverhältnis lehnte der Bundestag einen Antrag der Linken (18/5110) ab, in dem die Einführung einer Bürgerversicherung in der Pflege gefordert wird. Damit ließen sich Reformen wie die Einführung des neuen Pflegebegriffs und deutliche Leistungsverbesserungen schultern, argumentierte die Fraktion. Gegen das Votum der Opposition scheiterten die Grünen mit einem Antrag (18/6066), indem umfassende Maßnahmen gegen den Personalmangel in der Pflege gefordert werden. Unter anderem wollten die Grünen eine Pflege-Bürgerversicherung einführen und pflegende Angehörige stärker unterstützen.«

Donnerstag, 12. November 2015

Die „Praxis der schnellen Stempel“. Vom Politikversagen über das Staatsversagen hin zum Organisationsversagen? Im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge schicken Mitarbeiter ihrer Leitung einen offenen Brief

Es ist unabweisbar: In der Flüchtlingsfrage herrscht ein großes Durcheinander. Das fängt an bei dem zumeist wenig hilfreichen monothematischen Dauerrauschen in den Talkshows im Fernsehen, geht über die Tatsache, dass es offensichtlich derzeit nicht möglich ist, zu sagen, wie viele und welche Menschen sich wo überhaupt in Deutschland aufhalten und geht bis hin zu der Tatsache, dass Akteure der Bundesregierung - allen voran der Bundesinnenminister - eine Überforderungs- und Wir-sollten-jetzt-das-tun-ohne-das-vorher-abzustimmen-Kakophonie erzeugen, die sicherlich nicht dazu beiträgt, dass denjenigen, die Zweifel und Ablehnung unter den Menschen verbreiten wollen, der Nachschub auszugehen droht. Im fatalen Zusammenspiel der unterschiedlichen Ebenen kann das dazu beitragen, dass das Klima deutlich rauer wird und genau das ist ja auch zu beobachten. Jede weitere Nachricht mit Chaos-Potenzial verstärkt unweigerlich diese Tendenzen. Aber das kann und darf natürlich nicht heißen, dass man deswegen real existierende Probleme totzuschweigen versucht, nur weil sie sich als ein weiterer Baustein auf dem skizzierten Weg erweisen könnten. In diesem Kontext muss ein offener Brief gesehen und bewertet werden, der von Mitarbeitern des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) an die Leitung der Behörde geschickt wurde.

Montag, 9. November 2015

Die Chancen einer wirklichen Reform des Vergaberechts nutzen, um das Qualitäts- und Lohndumping bei Arbeitsmarktdienstleistungen aufzuhalten und umzukehren


Ein sperriges, aber wichtiges Thema: Die anstehende Reform des Vergaberechts und die Chance, bei den Ausschreibungen und Vergaben endlich die Qualität stärker als nur oder überwiegend den Preis zu berücksichtigen.

Gerade im Bereich der Arbeitsmarktdienstleistungen wäre es eine große Verbesserung, wenn sich die Politik durchringen würde, die Möglichkeiten eines eigenen Vergabesystems für soziale Dienstleistungen, die von der EU eröffnet wurde, auch offensiv zu nutzen, damit das in den vergangenen Jahren beobachtbare Qualitäts- und Lohndumping aufgehalten und umgekehrt werden kann. Hierzu haben sich die Gewerkschaften GEW und ver.di sowie auch der DGB zu Wort gemeldet und die Expertise "Vorschläge zu Qualitätskriterien als Kernbestandteil der Vergabe von Arbeitsmarktdienstleistungen" veröffentlicht.

Sonntag, 8. November 2015

Auf ganz dünnem Eis: Sterben und Tod als Gegenstand gesetzgeberischen Handelns. Zuerst das Hospiz- und Palliativgesetz, direkt danach der Regelungsversuch der Sterbehilfe

Das ist kein Thema, über das sich einfach reden und schreiben lässt: Es geht um die letzte Station im Leben eines Menschen, um das Sterben und die „Hilfe“ dabei - bis hin zu einem möglichen Zwang dazu. Auf der einen Seite ist das Sterben eine zutiefst individuelle Angelegenheit, eine Einzigartigkeit wie jeder Mensch eben selbst, die sich der Verallgemeinerung und Kategorisierung mit guten Gründen widersetzt. Das gilt letztendlich auch für die Frage nach einem - selbstbestimmten!? - Umgang damit. Auf der anderen Seite geht es hier nicht nur um das unaufhebbare Einzelne, sondern immer auch um die Frage nach dem gesellschaftlichen Umgang mit dem Sterben und den Bedingungen, unter denen es sich vollzieht. Und das bezieht sich auf das „Wo“ (z.B. Klinik, Heim, zu Hause) und kann eben auch das „Wann“ und „Wie“ umfassen, wenn der Tod nicht schlagartig über den Menschen kommt. Das alles ist angstbesetzt bei jedem von uns, es löst Abwehrreflexe und Fluchtgefühle aus, aber dennoch ist es hundertausendfache Realität in unserem Land jedes Jahr und der Umgang mit den Sterbenden und dem Tod sagt eine Menge aus über den Zustand einer Gesellschaft.

Freitag, 6. November 2015

Beschäftigte in Werkstätten für behinderte Menschen werden passend gemacht: Für den Mindestlohn keine Arbeitnehmer, für die Statistik sehr wohl

Mit Beginn dieses Jahres haben wir gelernt: Es gibt eine gesetzliche Lohnuntergrenze, den Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde, für alle Arbeitnehmer. Nun ja, für fast alle. Also ein paar sind ausgenommen oder bekommen erst etwas später die 8,50 Euro auf die Hand. Aber grundsätzlich für alle. Vor diesem Hintergrund wird man aufmerksam, wenn man mit solchen Meldungen konfrontiert wird: Urteil: Kein Mindestlohn für behinderte Menschen in Behindertenwerkstatt. Oder dieser Bericht hier: Beschäftigte in Behinderten-Werkstätten sind grds. keine Arbeitnehmer - Kein Mindestlohnanspruch. Ausgangspunkt beider Artikel ist eine Entscheidung des Arbeitsgerichts Kiel (Arbeitsgericht Kiel 19.6.2015, 2 Ca 165 a/15). Die Kernaussage des Urteils: »Behinderte Menschen können für ihre Arbeit in einer Werkstatt für Behinderte nicht den gesetzlichen Mindestlohn beanspruchen. Denn diesen können nur Arbeitnehmer, nicht aber arbeitnehmerähnliche Beschäftigte verlangen, entschied das Arbeitsgericht Kiel in einem aktuell veröffentlichten Urteil vom 19. Juni 2015.«

Auf der anderen Seite wurden die Beschäftigten in den Werkstätten für behinderte Menschen - immerhin sprechen wir hier deutschlandweit von mehr als 300.000 Menschen - im vergangenen Jahr explizit als "sozialversicherungspflichtig Beschäftigte in die Statistik mit aufgenommen und haben dadurch (zusammen mit mehr als 30.000 Personen, die in Einrichtungen der Jugendhilfe oder etwa Berufsbildungswerken beschäftigt sind, sowie knapp 80.000 meist junge Leute, die ein freiwilliges soziales oder ökologisches Jahr oder einen Bundesfreiwilligendienst leisten) die Zahl der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten um 350.000 Personen nach oben gehoben. Wie praktisch, denn: »Ohne die zusätzlichen Personengruppen wäre nach dem neuen Konzept die sozialversicherte Beschäftigung absolut sogar um 67.000 Personen gesunken. Nun aber wird das Beschäftigungsniveau rein rechnerisch um 347.000 Personen höher ausfallen«, so der DGB im vergangenen Jahr: Geänderte BA-Statistik: Plötzlich 414.000 Beschäftigte mehr.  Dazu auch die methodischen Hinweise der Bundesagentur für Arbeit (BA).

Donnerstag, 5. November 2015

Berliner Signal an die Wohnungspolitik: Wenn schon die Mietpreisbremse nicht so wirklich funktioniert, dann wenigstens die Kappungsgrenze bei Mietsteigerungen im Bestand?


Über ein neues Urteil mit grundsätzlicher Bedeutung für die Wohnungspolitik wird berichtet: Berlin darf Mieten überall begrenzen: Die deutschen Städte bekommen einen weiten Spielraum, um die Mietsteigerung zu bremsen. Die Deckelung der Mieten ist rechtens, hat der Bundesgerichtshof entschieden. Vgl. dazu auch die Mitteilung des BGH: Bundesgerichtshof bestätigt Rechtmäßigkeit der Kappungsgrenzen-Verordnung des Landes Berlin.

»Vermieter in Berlin können die Miete nur in kleinen Schritten erhöhen. Die Steigerung darf 15 Prozent innerhalb von fünf Jahren nicht überschreiten. Das hat der Bundesgerichtshof in einem Grundsatzurteil entschieden, mit dem er die Rechtslage in Berlin bestätigte (Az.: VIII ZR 217/14). Dort begrenzt die „Kappungsgrenzen-Verordnung“ Mietsteigerungen – und zwar für alle Stadtteile gleichermaßen.«

Diese Entscheidung eröffnet den Kommunen in Deutschland einen weiten Gestaltungsspielraum, um in die Mietentwicklung einzugreifen. Dazu, so Corinna Budras in ihrem Artikel, »hat die Politik in den vergangenen Jahren vor allem zwei Instrumente geschaffen: die Kappungsgrenzen für schon bestehende Mietverhältnisse, um die es in dem aktuellen Fall ging; seit Juli haben die Städte zudem die Möglichkeit, auch für neue Mietverträge eine Mietpreisbremse zu erlassen.« Über das neue Instrumentarium der Mietpreisbremse und den derzeitigen erheblichen Problemen, es mit Leben zu füllen vor allem angesichts der in vielen Kommunen fehlenden Mietpreisspiegel, wurde im Blog-Beitrag Der "Wohnungsmarkt". Von ungebremsten Preisspiralen über Schlupflöcher in einem vielleicht gut gemeinten Gesetz bis hin zur neuen Konkurrenz ganz unten vom 04.11.2015 ausführlich berichtet.

Mittwoch, 4. November 2015

Der "Wohnungsmarkt". Von ungebremsten Preisspiralen über Schlupflöcher in einem vielleicht gut gemeinten Gesetz bis hin zur neuen Konkurrenz ganz unten


Das gehört an den Anfang einer jeden Auseinandersetzung mit dem "Wohnungsmarkt": Wir sprechen hier nicht über die Frage, ob man sich mehr oder weniger von etwas leisten kann. Ob es heute oder vielleicht erst morgen oder übermorgen finanzierbar ist. Wir sprechen über eine existenzielle Angelegenheit. Ein Dach über dem Kopf. Einen warmen Ort. Ein Rückzugsgebiet. Zugleich ist selbst das in der Umlaufbahn der alles umschlingenden Marktkräfte mit ihren Eigenheiten von Angebot und Nachfrage, die man nicht wegdefinierten kann, was man besonders dann schmerzhaft zu spüren bekommt, wenn die Relationen zwischen Angebot und Nachfrage ins Ungleichgewicht rutschen und sich dort häuslich einrichten. Das ist natürlich ein echtes Problem für diejenigen, die sich aus welchen Gründen auch immer nur billigen Wohnraum leisten können oder deren tatsächliche oder unterstellte Merkmale zu einem Ausschluss bei den Vermietern führen, die also einfach nicht zum Zuge kommen können. Aber auch die, denen (noch) eine bezahlbare Wohnung vergönnt ist, stehen unter echtem Druck, denn jede Veränderung würde in vielen Städten zu einer erheblichen Kostensteigerung führen. Genau an dieser Stelle hat der Gesetzgeber ein Einsehen gehabt und zwischenzeitlich das Instrumentarium der "Mietpreisbremse" eingeführt, um den Prozess der beobachtbaren Mietsteigerungen zwar nicht aufzuhalten , aber wenigstens abzubremsen.

Dienstag, 3. November 2015

Über den Wolken muss die Freiheit der Ausbeutung annähernd grenzenlos sein. Der Billigflieger Ryanair mal wieder

Wenn man über Billigflieger sprechen muss, dann assoziieren das viele Menschen mit dem irischen Unternehmen Ryanair. Und das sicher nicht grundlos. Seit 1993 wird diese Fluglinie von  Michael O’Leary geführt, der sich durch seine extravaganten Auftritte und Eskapaden den Ruf des „enfant terrible“ der Luftfahrtbranche "erarbeitet" hat. Er hat die ursprüngliche Strategie der Gründerfamilie Ryan nicht fortgesetzt, sondern von Anfang an voll auf das Billigflug-Konzept (niedrigste Preise und keine Extras) gesetzt, das er von der der US-amerikanischen Fluggesellschaft Southwest Airlines kopierte. Unrentable Strecken wurden eingestellt und man hat sich auf nur einen Flugzeugtyp fokussiert. Ryanair dreht an vielen Stellschrauben, um als Kosteneffizienzmaschine der Konkurrenz zuzusetzen. Und das Unternehmen ist "wirtschaftlich" (in einem sehr begrenzten Verständnis davon) mehr als erfolgreich. Und zwar so erfolgreich, dass derzeit in Deutschland die nächste Angriffswelle gegen die Konkurrenz anzulaufen beginnt: Ryanair eröffnet einen neuen Preiskampf, muss man beispielsweise gerade in diesen Tagen in der Presse lesen. Nachdem Ryanair in Ländern wie Spanien, Italien und Großbritannien stark gewachsen ist, hat man sich nun offensichtlich den deutschen Markt besonders herausgegriffen - sicher auch, weil man die Schwächen und Schieflagen der heimischen Linien wie Lufthansa und Air Berlin Geiselhaft zur Kenntnis genommen hat. Das Unternehmen hat eine neue Basis in Berlin eröffnet (also nicht mehr auf irgendeinem abseitigen und hoch subventionierten Regionalflughafen, fast 400 zusätzliche Jets bestellt und will den Marktanteil in Deutschland mittelfristig auf 20 Prozent steigern.

Montag, 2. November 2015

„Mit Quickies kommen wir nicht weiter“. Flüchtlinge, Jobcenter und der Arbeitsmarkt

Nach Ansicht der Ökonomen wird 2016 die lange Phase sinkender Erwerbslosigkeit enden. Das liegt vor allem an den hohen Flüchtlingszahlen, so Stefan Sauer in seinem Artikel mit der harten Überschrift Konkurrenz um Billigjobs nimmt wegen Flüchtlingen zu. Der erwartete Anstieg resultiert vor allem aus den vielen Flüchtlingen, die meist ohne Sprachkenntnisse und kaum kompatibler Berufsausbildung zunächst in der Arbeitslosigkeit landen. Höchstens zehn Prozent der anerkannten Asylbewerber im Erwerbsalter werden in kurzer Zeit eine Stelle finden,  prognostizieren Arbeitsmarktexperten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) und des Instituts  für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), so Sauer. Daran anknüpfend hat sich eine - typische - Ökonomen-Debatte entwickelt, die vor allem von Befürwortern einer neuen Deregulierungswelle vorangetrieben wird: »Ihr Kernargument lautet: Nur wenn gesetzliche Hürden abgebaut werden, haben Flüchtlinge Aussichten auf baldige Einstellung.« Da verwundert es nicht, dass in diesem Kontext sogleich eine der letzten Regulierungsschritte auf dem deutschen Arbeitsmarkt - also die Einführung des allgemeinen gesetzlichen Mindestlohns zum 1. Januar 2015 - teilweise bzw. auch ganz wieder zur Disposition gestellt wird.

Sonntag, 1. November 2015

Arbeit in der Paketzustellung: Verheddert im System der organisierten Unverantwortlichkeit

Der Höhepunkt des Jahres steht bevor, also für die Paketdienste in diesem Land: das Weihnachtsgeschäft. Auch wenn das Business das ganze Jahr über immer lauter und damit besser brummt, bleibt die Zeit vor Weihnachten der absolute Aktivitätsgipfel, vor allem für diejenigen, die das ganze Zeug zu den Kunden bringen müssen: die Paketzusteller.

Und deren Arbeitsbedingungen waren in der Vergangenheit schon regelmäßig im Fokus einer kritischen Berichterstattung in den Medien, auch mit angetrieben durch die Under cover-Recherchen des umtriebigen Günter Wallraff vor einiger Zeit, der sich selbst als Paketzusteller verdingt und eindrucksvolle Erfahrungen gesammelt hat. Berichte darüber findet man auch in dem von ihm herausgegebenen Band Die Lastenträger. Arbeit im freien Fall - flexibel schuften ohne Perspektive (zu DHL, GLS & Co. S. 167 ff.). Aber trotz der medialen Skandalisierung ist die Lage offensichtlich nicht besser geworden, teilweise sogar ganz im Gegenteil. Zunehmend werden beispielsweise osteuropäische Wanderarbeiter eingesetzt, um noch billiger arbeiten zu lassen, mit mehr als skandalösen Bedingungen, denen die Menschen aus Rumänien und Bulgarien ausgesetzt sind. Zugleich muss man beobachten, dass auch viele der Subunternehmer, an denen das gesamte Geschäftsmodell der Paketdienste hängt, in den existenziellen Abgrund gestoßen werden und ihren Ausflug in die "Selbständigkeit", die sich in der Realität als perfide Form der Scheinselbständigkeit entpuppt, mit einer Schuldenfalle bezahlen, für die es dann nur noch den Exit Privatinsolvenz gibt.
Vor diesem Hintergrund war es Zeit, das Thema wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Die Gewerkschaft ver.di Rheinland-Pfalz/Saarland (in Kooperation mit der GUV-Fakulta,  dem Europäischen Verein für Wanderarbeiterfragen, der TBS gGmbH Rheinland-Pfalz sowie der Regionalstelle für Arbeitnehmer- und Betriebsseelsorge Mainz) hat deshalb am 31.10.2015 in Mainz ein Tribunal Arbeit in der Paketzustellung veranstaltet, bei dem im Rahmen einer fingierten Gerichtsverhandlung die Branche angeklagt und die Vorwürfe vor einem "Gericht" verhandelt wurden. Neben vielen Zeugen, vor allem Betroffenen aus der Branche, wurden als Sachverständige für die Befragung des "Gerichts" Günter Wallraff und ich geladen.

Donnerstag, 29. Oktober 2015

„Ich stöhne jeden Tag.“ Und: „Unser früherer Kundenkreis ist ja nicht weg“. Bittere Verteilungsfragen ganz unten, wo Flüchtlinge auf Obdachlose treffen

Rund 2.000 bis 3.000 Menschen leben in Berlin, die im Freien schlafen müssen, in Parks, unter Brücken, in leeren Gebäuden. Genaue Zahlen gibt es nicht. Aber es gibt Zahlen, die drastisch zeigen, wie stark das Problem gewachsen ist. Jürgen Mark, Leiter der Notunterkunft der Berliner Stadtmission, sagt: „An bestimmten Tagen müssen wir bis zu 350 Menschen abweisen. Das kannten wir früher nicht.“ Wenn 73 Betten belegt sind, wird zugemacht. Das hat mit Brandschutz zu tun, mit Fluchtwegen.

Und Martin Zwick, Geschäftsführer der Stadtmission, wird mit diesen Worten zitiert: „Die Konkurrenz zur Flüchtlingsarbeit ist da, man muss es so sagen.“ Es ist eine Konkurrenz am Rande der Gesellschaft, unter Menschen, die fast nichts mehr haben. Eine Konkurrenz auch um eines der 73 Betten.

Unter den Abgewiesenen sind viele Flüchtlinge.

»Sie kommen, weil sie in anderen Heimen nicht unterkommen oder weil das Sozialamt keinen Platz für sie hat und sie zur Franklinstraße schickt. Dann stehen sie vor der Tür mit anderen Obdachlosen, die seit Jahren kommen. „Unser früherer Kundenkreis ist ja nicht weg“ ... .«

Wohnst Du noch oder schon? Und wie? Von der "Marktekstase" bis hin zur Suche nach praktischen Lösungen für ein Dach über dem Kopf

Die Wohnungsfrage, die für Menschen mit niedrigen bis hin zu mittleren Einkommen - bereits seit langem vor dem Ankommen der vielen Flüchtlinge - vor allem in vielen (groß)städtischen Regionen eine höchst brisante war und ist, wurde im Beitrag (Nicht-)Wohnen: Die alte neue soziale Frage. Von einem Sprengsatz in unserer Gesellschaft mit erheblicher Splitterwirkung bereits als eine der zentralen sozialpolitischen Herausforderungen aufgerufen. Und die Bundesregierung liefert selbst einen Beitrag für die in diesem Kontext zu führenden Diskussionen, wurde doch nun der neue, alle vier Jahre vorzulegende Wohngeld- und Mietenbericht 2014, der den Zeitraum 2011 bis 2014 abdeckt, veröffentlicht (vgl. dazu beispielsweise Es wird eng in den Städten: »In Deutschlands Groß- und Universitätsstädten wird es immer schwieriger, bezahlbare Wohnungen zu finden. Das betrifft zunehmend auch Mieter mit mittlerem Einkommen.« Das zuständige Bundesbauministerin führt zum Wohngeld- und Mieterbericht 2014 aus: »Die seit 2009 zu verzeichnende Dynamik auf den Wohnungsmärkten der wirtschaftsstarken Zuzugsräume und vieler Groß- und Universitätsstädte hält weiter an. Hier sind weiterhin deutliche Mietsteigerungen und vielerorts spürbare Wohnungsmarktengpässe zu verzeichnen. Die aktuell hohen Flüchtlingszahlen verstärken die vorhandenen Knappheiten auf den Wohnungsmärkten zusätzlich. Vor allem einkommensschwächere Haushalte, aber auch zunehmend Haushalte mit mittleren Einkommen, haben Schwierigkeiten eine bezahlbare Wohnung zu finden.«

Dienstag, 27. Oktober 2015

(Nicht-)Wohnen: Die alte neue soziale Frage. Von einem Sprengsatz in unserer Gesellschaft mit erheblicher Splitterwirkung

Es soll und kann an dieser Stelle gar nicht ausgeführt werden, dass die Wohnungsfrage schon immer eine hoch brisante Problematik war (und ist), vor allem für die vielen Menschen mit keinem oder nur geringen Einkommen, in den attraktiven Großstädten bis hinein in die ganz "normale" Mittelschicht. Auch in diesem Blog wurde bereits mehrfach die Wohnungspolitik als ein hoch relevantes sozialpolitisches Handlungsfeld aufgerufen, so beispielsweise mit dem Beitrag Eine expandierende Großbaustelle mit offensichtlichen Baumängeln: Die Wohnungsfrage als eines der zentralen sozialen Probleme der vor uns liegenden Jahre vom 16. September 2015 oder am 12. Juni 2015 der Beitrag Wohnungspolitik: Wenn die Bremse kaum bremst und wenn, dann für die anderen, die Makler nicht mehr so einfach auf Kosten Dritter makeln können und letztendlich einfach Wohnungen fehlen, um nur zwei Beispiele zu nennen. Und dieser Beitrag knüpft von der Wortwahl bewusst an einen Beitrag aus dem September 2014 an, der so überschrieben wurde: Wohnst Du schon oder suchst Du noch? Die Wohnungsfrage als neue alte soziale und "Markt"-Frage, zunehmend auch für die "Mitte".

Die enorme Zuwanderung der letzten Monate ist derzeit das alles beherrschende Thema in den Medien. Dabei dominiert zwangsläufig die Berichterstattung über den Notfall-Modus, in dem sich die Systeme gegenwärtig befinden. In den vor uns liegenden, kälter werdenden Wochen wird es vor allem um die Frage gehen, wie man die vielen Menschen irgendwie irgendwo winterfest unterbringen kann. Aber man muss zugleich daran denken, wie das dann weitergehen kann und soll. Die Zuwanderer brauchen Wohnungen und sie werden vor allem günstigen Wohnraum brauchen.

Den aber brauchen andere, die schon immer hier waren, auch ganz dringend. Es ist ja derzeit kein Mangel an irgendwelchen  attraktiven und damit teuren Wohnungen, sondern für die vielen unter dem Durchschnitt reicht das Wohnraumangebot schon heute vorne und hinten nicht. Und es ist nun mal so: Die Zuwanderung der vielen Flüchtlinge wird den Verteilungskampf in den unteren Etagen erheblich befeuern.

Montag, 26. Oktober 2015

„Smörrebröd und Peitsche“. Vom Umgang mit Flüchtlingen in Dänemark. Der Blick über den nationalen Tellerrand

Es wird nicht nur meteorologisch kälter. Das kurze Sommermärchen einer überschwänglichen Willkommenskultur für Flüchtlinge in Deutschland weicht einer gefährlichen Polarisierung in die, denen die Hilfe und die Aufnahme der Menschen auf der Flucht weiter wichtig ist und denen, die sich radikalisieren in ihrer Ablehnung und von denen immer häufiger auch Gewalt gegen die Zuwanderer ausgeht. Der Eindruck verfestigt sich zunehmend, dass Deutschland aus dem Notfall- und auch Überforderungsmodus nicht herauskommt. Dann wird man mit solchen Meldungen konfrontiert: Bayerische Polizei zur Flüchtlingskrise: "Wir saufen heute ab": »Die große Zahl von Flüchtlingen an der Grenze von Österreich zu Bayern bereitet der Bundespolizei im Freistaat zunehmend Probleme. "Wir saufen heute ab", sagte Behördensprecher Frank Koller am Sonntagabend. Das Nachbarland schicke deutlich mehr Menschen als vereinbart nach Deutschland.« Das verunsichert auch viele ganz "normale" Menschen in unserem Land, geht es doch schon seit Wochen so. Und das ist Wasser auf die Mühlen derjenigen, die jede rote Linie längst überschritten haben und nicht nur - was schon schlimm genug ist - Unterkünfte in Brand setzen, sondern offensichtlich auch bereit sind, Gewalt gegen Menschen anzuwenden. Das fördert dann solche Meldungen zu Tage: 200 Polizisten müssen Flüchtlinge vor 400 Demonstranten schützen: »Rechte Demonstranten haben im sächsischen Freiberg gegen die Ankunft von Flüchtlingen demonstriert und Busse attackiert. In Hessen setzten Unbekannte eine Flüchtlingsunterkunft in Brand.«

Gleichzeitig läuft seit längerem eine ebenfalls oftmals sehr holzschnittartige Debatte über die (Nicht-)Möglichkeiten einer gelingenden Arbeitsmarkt-Integration der Flüchtlinge, die hier bleiben werden, weil ihnen das Asylrecht Schutz gewährt. Angesichts der erfahrbaren Dauer und der vielen Schwierigkeiten, die hier in den kommenden Monaten und Jahren auf die deutsche Gesellschaft zukommen werden, lohnt ein Blick auf andere Länder, die ebenfalls mit vielen Flüchtlingen konfrontiert waren und sind. Wie gehen die damit um? Schauen wir also nach Skandinavien, denn die Länder dort, vor allem Schweden, sind immer noch mindestens genau so attraktiv für Flüchtlinge wie Deutschland, wenn nicht noch mehr.

Freitag, 23. Oktober 2015

Unterwegs verloren gegangen - die "Rechtsvereinfachungen" im SGB II. Die Grünen fordern weiter eine "Entbürokratisierungs-Offensive". Und hinter den Kulissen wird geschachert

»Ursprünglich war einmal geplant, dass sich 80 Prozent der Beschäftigten in den mehr als 400 Jobcentern darum kümmern sollten, Arbeitslose zu fördern und zu vermitteln. Derzeit gilt dies aber nur für knapp die Hälfte der Mitarbeiter. Die anderen sind mit der Berechnung von Leistungen beschäftigt«, so Thomas Öchsner in seinem Artikel Grüne pochen auf weniger Regeln für Hartz IV. Man muss an dieser Stelle an den – eigentlich – fundamentalen Paradigmenwechsel erinnern, der im Gefolge der Hartz-Gesetze mit der Einführung der Grundsicherung (SGB II) im Jahr 2005 vollzogen werden sollte: Die beiden - unterschiedlichen Logiken folgenden - bedürftigkeitsabhängigen Leistungssysteme Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe wurden zusammengelegt mit dem Versprechen, dass mit der Einführung eines pauschalierten Regelsatzes, derzeit 399 Euro pro Monat für eine alleinstehende Person, eine enorme Verwaltungsvereinfachung einhergehen werde, da man nunmehr auf komplizierte einzelfallbezogene Berechnungen der Leistungen verzichten könne und auch ein Großteil der bis dahin in der Sozialhilfe auf Antrag gewährten einmaligen Leistungen für bestimmte Lebenstatbestände wurde gestrichen und mit dem neuen Regelsatz verrechnet. Aber wie so oft im Leben – was sich auf dem Papier so plausibel darstellen lässt, stößt in der wirklichen Wirklichkeit auf zahlreiche unterschiedliche Fallkonstellationen, deren zumindestens teilweise Berücksichtigung einen Teil der Verwaltungsvereinfachung sofort wieder außer Kraft setzt. Viele Details mussten geregelt werden, die nicht im pauschalierten Regelsatz enthalten waren bzw. sind.

Donnerstag, 22. Oktober 2015

Drinnen sieht es wahrlich nicht rosig aus und von draußen wird gezerrt und gerüttelt. Die Leiharbeit vor gesetzlichen Änderungen und der DGB bringt seine Forderungen zu Papier


Zumindest die etwas älteren Semester werden sich alle erinnern an das Jahr 1985, als das Buch "Ganz unten" von Günther Wallraff erschien und - man kann es so sagen - ein Ruck durch Deutschland ging angesichts der Schilderung desaströser Arbeitsbedingungen in der Undercover-Reportage, in der Wallraff als Türke "Ali" unter anderem auch mit der Leiharbeit Bekanntschaft gemacht hat (vgl. anlässlich des 30jährigen Jubiläums das Interview mit ihm: "Ausländer sucht Drecksarbeit, auch für wenig Geld"). Auch heute noch hat die Leiharbeit (nicht nur) ein Image-Problem. Vor allem im Gefolge der erheblichen Expansion der Leiharbeit in den Jahren nach der großen Deregulierung im Zuge der "Hartz-Reformen" 2003 ging ein gehöriger Anteil der zusätzlichen Leiharbeiter auf die offensichtliche Lohndumping-Strategie eines Teils der Unternehmen zurück, was dem eigentlichen Sinn der Leiharbeit, also die Abdeckung kurzfristiger Auftragsspitzen oder die temporäre Kompensation ausgefallener eigener Mitarbeiter, zuwiderläuft. Bei dieser Verschiebung hin zu einer dauerhaften Beschäftigung von Leiharbeitern (nicht zu verwechseln mit dauerhafter Beschäftigung der einzelnen Person) in den Entleihunternehmen ging es nicht nur um die Ausnutzung des Lohndifferentials zwischen Stamm- und flexibler Randbelegschaft sowie der Realisierung eines "atmenden Unternehmens" aufgrund der hohen Flexibilität durch Leiharbeiter, von denen man sich ohne Probleme schnell wieder trennen bzw. umgekehrt die man schnell anheuern kann, wenn Bedarf besteht. Es wurde mit der expandierenden und weitgehend rechtlosen Randbelegschaft zugleich auch ein Druckmittel vergrößert gegen die Stammbelegschaft, die sich angesichts ihrer zumindest teilweisen Ersetzbarkeit zurückhalten sollte bei Forderungen gegenüber dem eigenen Arbeitgeber.