Mittwoch, 9. November 2016

Aus den Augen, aus dem Sinn? Verloren auf den griechischen Inseln. Und einige wenige Stimmen, die an die Flüchtlinge erinnern


War da noch was mit Flüchtlingen? Schaut man in die meisten Medien, dann müsste man den Eindruck bekommen, dass das Aufreger-Thema der zurückliegenden Monate irgendwie weg ist. Hat sich das "Flüchtlingsproblem" gelöst? An der einen oder anderen Stelle wird die (vermeintliche) Ruhe an der Berichterstattungsfront gestört, beispielsweise so: »Brandbrief der Bürgermeister ans Land: Es fehlt an Geld für Sprachkurse, Wohnungsbau und Betreuung von Flüchtlingen. Selbst Jobprogramme reichten nicht aus«, kann man dem Artikel Städte fordern Hilfe bei der Integration von Flüchtlingen entnehmen. Die nordrhein-westfälischen Städte sehen sich derzeit mit der Aufgabe, Flüchtlinge erfolgreich zu integrieren, völlig überfordert. Die Kommunen seien nicht in der Lage, die notwendigen Investitionen in Kinderbetreuung, Schulen, Sprachkurse, Berufsvorbereitung und in den Wohnungsbau zu stemmen. Auch wenn das so sein sollte - viele werden abwinken und argumentieren, da gehe es doch "nur" darum, dass die Städte mehr Geld haben wollten aus dem Topf der Finanzmittel, die seitens des Bundes, der Länder und der Kommunen bereitstehen. Und tatsächlich geht es hier konkret um die Integrationspauschale des Bundes, die über die Länder an die Kommunen weitergeleitet werden soll, jedenfalls "zum großen Teil". Man ahnt schon, was hier passiert.

Aber ansonsten verliert sich die Berichterstattung darin, dass man darauf hinweist, dass sich vor allem die Integration in den Arbeitsmarkt irgendwie weitaus sperriger und mühsamer und zeitaufwendiger darstellt, als anfangs (von einigen) erhofft bzw. unterstellt.

Aber die Bilder von ankommenden Flüchtlingen, die Diskussion über deren Unterbringung - alles Geschichte. Irgendwie ist das so abrupt wieder weg wie es gekommen ist. Natürlich kommen weiterhin Menschen hier an, die Asyl begehren, aber sie sind verschwunden unter dem Schleier der Nicht-Thematisierung und es sind ja auch wirklich deutlich weniger als beispielsweise im vergangenen Jahr. Also alles gut?

Es ist ja nicht so, dass es keine Flüchtlinge mehr gibt, sondern die meisten kommen eben nicht mehr durch und sind hängen geblieben im Vorhof der Festung Europa, worüber - durchaus verständlich aus der Binnenperspektive - hier sicher viele froh sind.

Die andere Seite der Medaille: Rund 50.000 Flüchtlinge sitzen aktuell in Griechenland fest, vor allem auf den griechischen Inseln. Und das ist sowohl für die betroffenen Flüchtlinge wie auch für die Griechen, die sich selbst in einer schweren ökonomischen und gesellschaftlichen Krise befinden (vgl. dazu den Beitrag Griechenland: Der sich selbst überlassene Außenposten der EU gegen Flüchtlinge und für viele Griechen der Blick auf die eigene "200-Euro-Generation" und eine lebenslange Armutsfalle vom 29. Oktober 2016), ein großes Problem.

Und wieder ist es eine Hilfsorganisation, in diesem Fall Ärzte ohne Grenzen, die auf die Probleme aufmerksam macht. Dazu der Artikel Ärzte prangern Missstände an von Jana Kötter:

»Sieben Monate nach Inkrafttreten des EU-Türkei-Abkommens ist die Lage der Flüchtlinge in Griechenland weiter dramatisch: Mehr als 50.000 Migranten lebten "unter unzumutbaren Bedingungen und erhalten keine ausreichende medizinische Versorgung"; infolge gravierender Lücken im System würden die Schutzbedürftigen nicht vollständig erfasst und anschließend auch nicht angemessen versorgt.«

Loic Jaeger, Landeskoordinator von Ärzte ohne Grenzen in Griechenland, wird mit einer scharfen Kritik an den Zuständen zitiert: "Die Hotspots auf den Inseln haben eine Auslastung von 200 Prozent erreicht, und die Versorgung in den Lagern auf dem Festland ist mangelhaft", sagt er. "Die EU-finanzierten Maßnahmen kommen zu langsam voran, und Griechenlands Gesundheitswesen ist überfordert."

Darunter litten vor allem die Schwächsten: Menschen mit chronischen Erkrankungen und psychischen Störungen, unbegleitete Minderjährige, Schwangere.

»Ärzte ohne Grenzen fordert die EU und die griechischen Behörden deswegen auf, "sich sofort den Bedürftigsten zuzuwenden und legale und gesicherte Wege für diejenigen einzurichten, die einen Anspruch auf Umsiedlung haben", um woanders in Europa aufgenommen zu werden.
Vor allem aufgrund des bevorstehenden Winters – des zweiten in Zelten – sei schnelles Handeln nötig.«

Für die im Land Verbleibenden verdeutlicht der Report von Ärzte ohne Grenzen die Dringlichkeit psychotherapeutischer Betreuung. "Die Menschen, mit denen wir arbeiten, haben teilweise Unvorstellbares durchlebt. Nun sitzen sie fest wie in einem Gefängnis unter freiem Himmel", sagt Christina Sideri, eine Psychologin der Organisation.

Selbst wenn Flüchtlinge in der "komfortablen" Situation sind, dass sie beispielsweise bis nach Deutschland geschafft haben, wo die allgemeine Lage für die Betroffenen sicher deutlich besser ist als in Griechenland auf dem Festland und erst recht auf den Inseln, wird von erheblichen Problemen gerade bei der psychotherapeutischen Versorgung gesprochen. Vgl. dazu den Beitrag Nur winzige Chance auf Psychotherapie von Helmut Laschet: »Ein Drittel bis die Hälfte der in Deutschland angekommenen Flüchtlinge gilt als traumatisiert. Doch vor einer adäquaten psychotherapeutischen Versorgung stehen kaum überwindbare Barrieren, wie die Bertelsmann-Stiftung feststellt ... Faktisch, so eines der zentralen Ergebnisse der Bertelsmann-Studie, bleibe ... der Zugang zu psychotherapeutischen Behandlungen den meisten Asylbewerbern in den ersten 15 Monaten verwehrt. Dies resultiert aus dem Asylbewerberleistungsgesetz, wonach nur Anspruch auf Akutbehandlung, nicht jedoch auf Langzeittherapie besteht ... Nach Angaben der Bundespsychotherapeutenkammer wurden 2014 – noch vor dem großen Flüchtlingszustrom – nur vier Prozent der psychisch kranken Flüchtlinge psychotherapeutisch versorgt. Die weitaus meisten Therapien bei Flüchtlingen werden in den 32 Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer geleistet: 2015 waren es 13.500 Menschen, die dort versorgt wurden. Die Wartezeit beträgt in der Regel sieben Monate, kann aber auch ein Jahr erreichen. Das Einzugsgebiet liegt im Durchschnitt bei 170 Kilometern, es gibt aber auch Anfahrtswege von bis zu 500 Kilometern. Das heißt: Bei einem Zustrom von Flüchtlingen von mehr als einer Million Menschen im vergangenen Jahr und mehr als 220.000 im ersten Halbjahr 2016 ist davon auszugehen, dass bei einer Traumatisierungsprävalenz von mehr als 30 Prozent nur ein Bruchteil der betroffenen Menschen psychotherapeutisch versorgt wird.« Und auch hier wird man wieder mit den so typisch deutschen Finanzierungsproblemen konfrontiert: »Die Psychosozialen Zentren erhalten für ihre Leistungen keine strukturelle Finanzierung. Die Refinanzierung von Psychotherapien durch Sozialbehörden, Krankenkassen und Jugendämtern liegt gerade bei drei Prozent. Landesmittel machen etwa 14 Prozent aus, Kommunen steuern elf Prozent zu. Ein Teil der Leistungen wird durch Spenden finanziert, 25 Prozent der Leistungen werden ehrenamtlich erbracht. Drei Millionen Euro spendiert das Bundesfamilienministerium.«
Zurück nach Griechenland: Ärzte ohne Grenzen beklagt außerdem, dass das Asylverfahren so langsam sei, dass viele ihre erste Anhörung erst im April oder Mai des kommenden Jahres haben. "Das Warten und die Ungewissheit sind unerträglich für die Menschen."

Griechenlands Regierung hingegen bemängelt mangelnde Unterstützung anderer europäischer Länder bei der Umsiedlung der Flüchtlinge. Bislang seien nur rund 5.000 und nicht wie vergangenes Jahr von der EU beschlossen 30.000 Menschen umverteilt worden.

Wer den Bericht der Organisation "Ärzte ohne Grenzen" über die Situation in Griechenland im Original lesen möchte, der kann den hier abrufen:

Médecins sans Frontières: Greece in 2016: Vulnerable People Get Left Behind, October 2016

Zur Situation auf den griechischen Inseln und zur flüchtlingspolitischen Einordnung vgl. auch diese Arbeit:

Nikolaos Gavalakis und Nicole Katsioulis (2016): Gestrandet in Griechenland. Wie die Implementierung der EU-Flüchtlingspolitik scheitert, Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, November 2016