Freitag, 7. Oktober 2016

Über den Wolken ist die Freiheit eben nicht grenzenlos. Von tatsächlicher und postulierter Arbeitsunfähigkeit bis zur "Ryanairisierung" einer Branche

Offensichtlich ist eine Epidemie ausgebrochen. Nicht bundesweit, nicht begrenzt auf eine Region oder einen Ort - sondern auf ein Unternehmen. Bei TUIfly muss ein ganz besonderer Erreger sein Unwesen treiben. Massenhafte Krankmeldungen von Flugzeugbesatzungen haben den Ferienflieger lahmgelegt. Zahlreiche Flüge mussten und müssen ersatzlos gestrichen werden. Ein echtes Problem für diejenigen, die mit dem Beginn der Herbstferien in Urlaub fliegen wollen oder die in Spanien oder der Türkei festsitzen und einfach nach Hause kommen wollen. Das Unternehmen ist der Auffassung, dass Kunden keine Entschädigung für die Flugausfälle verlangen können. Bei den massenhaften Krankmeldungen der Mitarbeiter handele es sich um höhere Gewalt, findet das Unternehmen. Verbraucherschützer und Reiserechtsexperten sehen das jedoch anders.

Man muss kein Verschwörungstheoretiker sein, um die die These zu wagen: Offensichtlich werden wir hier mit einem informellen Streik konfrontiert. Mit Streiks im Luftverkehr haben wir in den vergangenen Jahren durchaus einige Erfahrungen machen müssen, jeder wird die Pilotenstreiks bei der Lufthansa in langsam verblassender, aber noch präsenter Erinnerung haben. Nur waren das "seriöse" Arbeitskämpfe, organisiert von der Pilotengewerkschaft Vereinigung Cockpit (VC). Da ging es beispielsweise um die betriebliche Altersversorgung der Piloten (vgl. dazu beispielsweise den Blog-Beitrag Über den Wolken geht es weniger um grenzenlose Freiheit, als um Gehälter, Altersversorgung und Sparprogramme. Wie unten auf dem Boden. Zur Arbeitsniederlegung der Lufthansa-Piloten vom 1. April 2014). Allerdings hatte sich im Verlauf der konfrontativen Entwicklung zwischen den Piloten und der Lufthansa das Ziel des Arbeitskampfes verschoben. Im Jahr 2015 sei es der Gewerkschaft Cockpit maßgeblich darum gegangen, zu verhindern, dass eine von ihr als „Billigfluglinie“ bezeichnete weitere Anstellungsgesellschaft für Piloten ins Leben gerufen werden sollte. Offiziell kommuniziert wurde jedoch, es gehe um die Regelung der betrieblichen Altersversorgung für alle Piloten. Das LAG Hessen hat in diesem Fall in einer kontrovers diskutierten Entscheidung festgestellt (LAG Hessen, 09.09.2015 - 9 SaGa 1082/15), dass Streiks, welche nur der Verhinderung unternehmerischer Entscheidungen dienten, von vornherein unzulässig seien. Maßgeblich für die Bewertung der Streikziele seien nicht nur die offiziell verkündeten Streikbeschlüsse, sondern auch andere Verlautbarungen der Gewerkschaft. Seit dieser Entscheidung ist - vorerst - Ruhe an der Streikfront der Lufthanseaten eingekehrt.

Bei TUIfly ist die Situation auf der einen Seite ähnlich, denn auch hier geht es um die Absicht des Unternehmens, strukturelle Veränderungen vornehmen zu wollen mit möglicherweise erheblichen Auswirkungen auf die Arbeitsbedingungen der Beschäftigten. Ende September 2016 wurde berichtet, dass TUIfly in einer Gemeinschaftsfirma mit Air Berlin aufgehen soll, vgl. dazu beispielsweise diesen Artikel: Verbund zwischen Tuifly und Air Berlin in Planung. Nach Medienberichten soll TUIfly an der neuen Gemeinschaftsfirma 25 Prozent der Anteile halten. Im Ergebnis würde das bedeuten, dass das Unternehmen TUIfly bestehen bleibt, aber künftig einen anderen Mehrheitsgesellschafter bekommt. Die Neuordnung muss im Kontext des Pokers um die hoch verschuldete Fluggesellschaft Air Berlin gesehen werden, bei der die arabische Airline Etihad mit einem Anteil von 29,2 Prozent Großaktionärin ist. Mit einem tiefgreifenden Umbau und der Streichung von bis zu 1.200 Arbeitsplätzen will Air Berlin seine schwere Krise überwinden. 40 der derzeit 144 Air-Berlin-Maschinen gehen an die Lufthansa, die diese samt Besatzung für sechs Jahre vor allem für ihre Billigtochter Eurowings mietet.

Warum das einen großen Teil der Belegschaft von TUIfly auf die Palme treibt, verdeutlichen diese Hinweise von Nicoley Baublies von der Gewerkschaft UFO (Unabhängige Flugbereiter Organisation):

»Man muss sich nur anschauen, was bisher schon passiert ist. Die Eurowings hat es vorgemacht: Es gibt eine Eurowings in Deutschland mit Tarifbedingungen. Jetzt wird aber eine Eurowings Europe gegründet mit einem sehr ähnlichen Konstrukt - ohne Tarifbindung. Das heißt, die Kollegen müssen nur einmal nach links und rechts schauen, um abzuschätzen, wie das in ihrem Fall laufen wird. Vor allen Dingen können TUIfly und Air Berlin nach eigener Aussage keine Garantien im Fall der Dachholding geben, weil sie selbst dort nur Minderheitseigner sein werden. Das heißt, diese neue Firma wird dann gegebenenfalls diktieren, dass es eben keine Tarifbindung gibt, dass die Bedingungen sich verschlechtern und Mitarbeiter entlassen werden.«

Auf der anderen Seite verdeutlicht der UFO-Sprecher auch das Problem für die Gewerkschaften, das man schon an der Überschrift ablesen kann: "Ein Streik wäre rechtlich nicht machbar":

»Ein Streik ist nur möglich, wenn ich für einen Tarifvertrag eintrete, da ist das Recht sehr deutlich. Ein Streik zu der aktuellen unternehmerischen Entscheidung wäre also rechtlich gar nicht machbar. Um die Tarifbedingungen in den jetzigen Betrieben geht es ja auch nicht. Es geht eben darum, dass die Sorge bei den Mitarbeitern besteht, dass die bestehenden Tarifverträge und die Standorte in Gefahr sind, weil man eben ausgründet. Die Mitarbeiter wurden nicht rechtzeitig darüber informiert und ihnen wurde keine Absicherung angeboten.«

Also auch wenn die Gewerkschaften wollten, sie könnten bzw. dürften nicht. In diesem Zusammenhang wird durchaus verständlich, warum man die aktuellen Vorkommnisse in der Belegschaft als eine Art Bypass-Strategie verstehen kann, um das Unternehmen so zu treffen wie mit einem "seriösen" Streit.

Sollten tatsächlich Mitarbeiter von TUIfly eine Arbeitsunfähigkeit - und die damit verbundene Lohnfortzahlung im Krankheitsfall - in Anspruch nehmen, obgleich sie gar nicht wirklich erkrankt sind, dann handelt sich aus juristischer Sicht eindeutig und ohne Diskussion um ein Betrugsdelikt. So heißt es in dem Artikel "Go sick" bei Tuifly - Dürfen die das? eindeutig:

"Es ist völlig unumstritten, dass eine vorgetäuschte Erkrankung eine erhebliche Pflichtverletzung im Arbeitsverhältnis darstellt", sagt ein Sprecher des Bundesarbeitsgerichts. Dabei sei es egal, ob es sich um einen Einzelfall handelt oder sich Arbeitnehmer dazu verabreden. Manche Arbeitsrechtler sprechen von einem "wilden Streik".

Dazu eindeutig das 2012 veröffentlichte Gutachten Arbeitskampfmittelfreiheit und atypische Arbeitskampfformen von Britta Rehder und Olaf Deinert unter Mitwirkung von Thomas Dieterich. Dort findet man auf S. 33 die folgenden Hinweise: Das Bundesarbeitsgericht hat bestimmte Versuche, individuelle Rechte im Hinblick auf kollektive Ziele koordiniert einzusetzen, bereits in den 1960er- und 1970er-Jahren für unzulässig erklärt. Bei den für unzulässig erklärten Formen taucht gleich an erster Stelle die "Massenhafte Krankmeldung (Sick-out)" auf:

»Anfang der 1970er-Jahre sorgten verbeamtete Fluglotsen durch koordinierte gleichzeitige Krankmeldung dafür, dass der Flugbetrieb erheblich gestört wurde und teilweise eingestellt werden musste. Dadurch sollten Entgeltforderungen des Verbands Deutscher Flugleiter unterstützt werden. Neuere Beispiele lassen sich nicht finden, nachdem der BGH diese Aktion für sittenwidrig erklärt hat (BGH, Urteil vom 31.01.1978 –VI ZR 32/77, AP Nr. 61 zu Art. 9 GG Arbeitskampf).«

"Es verstößt gegen das Prinzip der Waffengleichheit, statt klarer Fronten eine anonyme Mauer passiven Widerstands zu setzen", so der Bundesgerichtshof in dem Urteil, mit dem er 1978 die "Go-sick"-Aktion der Fluglotsen für sittenwidrig erklärte.

Vermutungen, dass die hohe Anzahl von Krankmeldungen von Fahrern der Berliner S-Bahn im Dezember 2011, die sich mehrfach an bestimmten Tagen häuften, ein versteckter Streik seien, wurden vom Unternehmen und von der Gewerkschaft der Lokführer (GdL) dementiert (vgl. dazu den Artikel S-Bahn: Wir werden nicht sabotiert von Klaus Kurpjuweit vom 19.12.2011). Was natürlich nicht bedeuten muss, dass es auch so war.

Insofern haben die aktuellen Ereignisse bei der TUIfly durchaus eine neue Qualität. Chaos bei Tuifly geht weiter, so hat Stefan Sauer seinen Artikel dazu überschrieben. Und auch er verweist auf die Hintergründe, die in den Umbrüchen der Branche zu suchen sind:

»Tuifly soll mit der Air-Berlin-Tochter Air Niki zu einer neuen Ferienfluglinie verschmolzen werden, an der beide Unternehmen je 24,9 Prozent halten würden. Die übrigen 50,2 Prozent gingen an eine Stiftung in Österreich, neuer Firmensitz würde Wien. Der Sinn des Manövers ist klar: Es geht um Kostensenkung. Die neu geschaffene Gesellschaft könnte österreichische Tarifverträge anwenden, die gegenüber den deutschen um ein Fünftel geringere Gehälter für die Flugzeugbesatzungen vorsehen.«

Allerdings sind die Pläne, mit der Gründung einer gemeinsamen österreichischen Tochter deutsche Tarifverträge auszuhebeln, arbeitsrechtlich nicht unumstritten. Wenn es sich dabei um einen Betriebsübergang handelte, würden die Beschäftigten gemäß einer EU-Richtlinie ihre Rechte einschließlich der Tarifvertragsvereinbarungen gleichsam mitnehmen. Zudem bedeute die Verlegung des Firmensitzes nach Österreich nicht automatisch, dass sich auch die „gewöhnliche Arbeitsstätte“ der Beschäftigten dorthin verlagerte. Die gewöhnliche Arbeitsstätte aber sei maßgeblich für den Anwendungsbereich von Tarifverträgen.

Insofern sind noch viele Fragen offen. Offensichtlich haben wir es im engeren Sinne auch mit einem typischen Managementversagen zu tun - muss man sich wundern, wenn den Mitarbeitern der Kragen platzt, wenn sie sich nicht ausreichend informiert fühlen? Wenn sie aus der Presse in Häppchen erfahren, was ihnen möglicherweise droht?

Aktuell zeichnet sich in Umrissen ab, dass die gut dotierten Manager verstanden haben, dass sie eine Ringschuld haben: Management kommt Mitarbeitern entgegen, so der in Berlin erscheinende Tagesspiegel. Die Entscheidungen über eine Zusammenlegung sollen nun bis Mitte November verschoben werden.

Und TUIfly hat heute mitgeteilt, »das Unternehmen bleibe für mindestens drei Jahre eine deutsche Gesellschaft mit Sitz in Hannover. Die Arbeitsverträge blieben bestehen, Betriebsräte und Personalvertretungen blieben im Amt. Betriebsvereinbarungen und Tarifverträge behielten ihre Gültigkeit, Einschnitte bei den Gehältern werde es nicht geben. Weitere Gespräche sollen in der kommenden Woche geführt werden.«

Aber hinter den aktuellen Vorgängen stehen tiefgreifende Veränderungen der Branche, die mit dem Begriff der "Ryanairisierung" zuspitzend tituliert werden sollen. Es geht um Kostensenkung, wo es nur geht - und da spielt das Personal eine ganz entscheidende Rolle. Vgl. zur unrühmlichen Rolle des Billigfliegers Ryanair beispielsweise schon den Beitrag Billig hat einen hohen Preis. Die Piloten bei Ryanair vom 28. Mai 2015). Erst jüngst stand das Unternehmen wieder im Mittelpunkt der kritischen Betrachtung aufgrund der Beschäftigung von Piloten als Leiharbeiter bzw. Scheinselbständige. Und das frisst sich zunehmend durch die gesamte Branche.

»Flugreisende dürfen sich auf dem deutschen Markt für Billigflieger weiter über anhaltend günstige Tickets freuen: Der scharfe Wettbewerb zwischen Anbietern und die niedrigen Kerosinkosten hätten teilweise zu deutlich fallenden Ticketpreisen geführt«, so das Deutsche Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR) in einer Trendstudie, kann man diesem Artikel entnehmen: Bei Billigfliegern sinken die Preise. Die Flughäfen Köln/Bonn und Berlin/Schönefeld entwickeln sich immer mehr zu Drehkreuzen für Billigflieger. »Befeuert wird die Entwicklung vor allem durch den expandierenden irischen Billigflieger Ryanair, der seine Verbindungen in Köln und Bonn mehr als verdoppelte beziehungsweise verdreifachte.« Und eine weitere Expansion ist absehbar: »Für Billigflieger zunehmend interessant werde auch das Geschäft auf der langen Strecke. So steuerten Eurowings und Norwegian Air vermehrt Ziele außerhalb Europas an. Eurowings startete im vergangenen Jahr mit Angeboten nach Asien und Amerika und agiert seitdem auf der Langstrecke konkurrenzlos vom Flughafen Köln/Bonn.«

Der Druck kommt natürlich auch von der Nachfrageseite, den Kunden, die immer billiger fliegen wollen. Aber es gibt Grenzen der Betriebswirtschaft, bei deren Unterschreiten die Beschäftigten nicht mehr nach den Standards bezahlt werden können, die den Vorstellungen ordentlicher Tarifverträge entsprechen.

»Bei TUIFly melden sich reihenweise Piloten und Flugbegleiter krank. Tatsächlich ist der Job für viele in der Branche härter geworden. Ein junger Eurowings-Pilot erzählt, unter welchem Stress er steht«, so beginnt der Artikel "Hektik führt zu Fehlern" von Heike Klovert.
Er hat 60.000 Euro Schulden,  das ist der Eigenanteil für die Ausbildung bei der Lufthansa. Die Ausbildung sollte zwei Jahre dauern, »doch wir waren erst nach fünf Jahren fertig. Es fehlten Fluglehrer und Flugzeuge.« Und jetzt? »Seit Juni habe ich nun einen Job als Co-Pilot - bei Eurowings, denn Lufthansa stellt seit drei Jahren keine neuen Piloten ein ... Monatlich verdiene ich ungefähr 2500 Euro netto, das sind mindestens 30 bis 50 Prozent weniger als ein Pilot bei der Lufthansa ... Rund 900 Piloten, die die Lufthansa ausgebildet hat, sind noch nicht übernommen worden. Sie studieren, jobben oder fliegen für andere Airlines zu schlechteren Konditionen, so wie ich. Künftig wird es noch schwerer für angehende Piloten: Sie müssen das Geld für die gesamte Ausbildung selbst aufbringen."« Zum letzten Punkt vgl. auch den Artikel Lufthansa-Piloten zahlen Ausbildung künftig allein.