Montag, 10. August 2015

Zwischen "ausgelaugter Gewerkschaft" und dem Nachtreten derjenigen, die das Streikrecht schleifen wollen

Derzeit läuft in der Öffentlichkeit die Debatte über die Bewertung der Ergebnisse der Mitgliederbefragungen zum Schlichterspruch im Streik des Sozial- und Erziehungsdienstes. Sowohl bei ver.di wie auch bei der GEW wurde der mit fast 70% abgelehnt - und das sorgt jetzt für viel Diskussion.

Pascal Beucker kommentiert in der taz mit Blick auf den Ende September anstehenden Bundeskongress der Gewerkschaft ver.di, wo Frank Bsirske für eine fünfte Amtszeit als Gewerkschaftschef kandidiert, sehr kritisch unter der Überschrift Ausgelaugte Gewerkschaft: »Die aktuelle Verdi-Führung gibt eine schlechte Figur ab – konzeptionslos und müde. Ein Neuanfang ist jedoch nicht in Sicht.«

Und weiter: »Das Motto des kommenden Verdi-Bundeskongresses soll Optimismus verbreiten: „Stärke. Vielfalt. Zukunft.“ Ein Fall von Autosuggestion ... Um es deutlicher zu formulieren: Verdi befindet sich in einer veritablen Krise. Das Führungspersonal um den Dauervorsitzenden Frank Bsirske, der seit der Gründung von Verdi 2001 an der Spitze steht, und seine beiden StellvertreterInnen Andrea Kocsis und Frank Werneke wirkt konzeptionslos und ausgelaugt. Doch hoffnungsvolle Nachwuchskräfte, die an ihre Stelle treten könnten, sind nicht in Sicht. Alle drei müssen nicht mal mit einer Gegenkandidatur rechnen.«

Beucker trifft einen zentralen wunden Punkt, wenn er über die eigentliche Notwendigkeit personeller Konsequenzen schreibt:

»Dafür spricht die dramatisch schlechte Figur, die die Verdi-Spitze zuletzt in gleich zwei zentralen Arbeitskämpfen abgegeben hat: im Tarifkonflikt im Sozial- und Erziehungsdienst und in der Auseinandersetzung bei der Post. Das Ergebnis war das gleiche. In beiden Fällen hat die Führung ihre Mitglieder in den unbefristeten Streik geführt – und ist dann jeweils zum völligen Unverständnis ihrer kämpferischeren Basis vor den Arbeitgebern eingeknickt.«

Er weist zudem darauf hin, dass hinter vorgehaltener Hand spekuliert wird, dass der Gewerkschaftsspitze die Streikkosten, die auf 100 Mio. Euro geschätzt werden für die beiden großen Streiks, also bei der Deutschen Post und den Sozial- und Erziehungsdiensten, schlichtweg zu teuer geworden sind. Immerhin hat die Gewerkschaft ver.di allein in diesem Jahr bis Juli 2015 nach Angaben von Bsirske auf einer Pressekonferenz am 10.08.2015 insgesamt 1,5 Mio. Streiktage bewältigen müssen. Die Ausführungen von Bsirske auf dieser Pressekonferenz (vgl. dazu einen Ausschnitt als Video von Phoenix) sind sehr aufschlussreich, weite Teile muss man werten als Versuch einer Verteidigung gegen die durchaus naheliegende Überlegung, ob er nicht die politische Verantwortung übernehmen sollte und müsste angesichts der katastrophalen Bilanz der letzten großen Arbeitskämpfe (vgl. in diese Richtung auch meinen Beitrag Die Gewerkschaftsspitze allein zu Haus? Das Ergebnis der Mitgliederbefragung zum Schlichtungsergebnis im Streik der Sozial- und Erziehungsdienste und das "Fliegenfänger"-Problem der Verdi-Führungsebene vom 8. August 2015). Das sei – so Bsirske heute  gegenüber der Presse– „völlig absurd“ und im übrigen bewertet er den völlig überhasteten Abbruch des Streiks bei der Post als „absoluten Erfolg“ (vgl. hierzu aber meinen Beitrag Das Ende des Post-Streiks: Ein "umfassendes Sicherungspaket" (für die, die drin sind) und ein verlorener Kampf gegen die Billig-Post vom 6. Juli 2015 mit einer ganz anderen Einschätzung). Man kann nur hoffen, dass sich die Gewerkschaftsbasis gegen einen möglicherweise jetzt von oben verordneten Zustand der organisationspolitischen Friedhofsruhe wehren wird.

Ganz anders hingegen muss diese Kommentierung gelesen werden – und sie sollte aufmerksam gelesen werden von allen, die sich mit gewerkschaftlichen Rechten, zu denen natürlich das Streikrecht gehört, beschäftigen: Unter der sympathieheischenden Überschrift Verlierer sind die Kinder versucht Rainer Blasius in der FAZ zum einen, vor einer Wiederaufnahme der Arbeitskampfmaßnahmen zu warnen (»Das alles wird auf dem Rücken der Kinder ausgetragen, für die das Kita-Personal fürsorglich da sein will«). Am Ende kommt er dann aber zum eigentlichen Anliegen - und man muss sich seine Formulierung in aller Ruhe zu Gemüte führen:

»Das unbotmäßige Verhalten der Gewerkschaften zeigt darüber hinaus, dass das Streikrecht für öffentlich Tarifbeschäftigte neu geregelt werden muss. Im Bereich der Daseinsvorsorge, zu dem Kitas zählen, müssen Arbeitskämpfe eingeschränkt werden, damit das Wohl der Kleinsten besser geschützt wird.«

Hier wird etwas offensiv vorangetrieben, was sich seit der Debatte über den Lokführerstreik der GDL sowie den Arbeitskampfaktionen der Pilotengewerkschaft Cockpit bei der Lufthansa immer stärker im politischen Raum konturiert (vgl. dazu den Beitrag Bayern legt nach. Das Streikrecht auf der Rutschbahn nach unten. Erst das Tarifeinheitsgesetz und jetzt die Forderung nach "obligatorischen Schlichtungsverfahren" in der "Daseinsvorsorge" vom 10. Juli 2015).

Wie es im Fall der Sozial- und Erziehungsdienste – es sei an dieser Stelle erneut darauf hingewiesen, dass es sich nicht nur um einen Aufwertungsstreik der Kita-Beschäftigten handelt, sondern auch die Fachkräfte beispielsweise in der Jugend- und Behindertenhilfe betroffen sind, die bei der Schlichtung übrigens völlig leer ausgegangen sind - nun weitergehen wird, kann man naturgemäß zum jetzigen Zeitpunkt nur spekulieren. Verdi-Chef Bsirske hat bereits „unkonventionelle Streikmaßnahmen“ in Aussicht gestellt, wenn die nun folgenden Verhandlungen mit den kommunalen Arbeitgebern keine Verbesserung des Schlichtungsergebnisses bringen sollten, was ja mehr als plausibel ist, denn warum sollten sich die Arbeitgeber in irgendeiner Form bewegen? Die Formulierung „unkonventionell“ kann darauf hindeuten, dass es keine unbefristeten Streiks mehr geben wird in einzelnen Einrichtungen, sondern eher tageweise Arbeitskampfmaßnahmen stattfinden werden. Vgl. dazu auch das Interview des Deutschlandunks mit Gabriele Schmidt, Landesvorsitzende von Verdi in Nordrhein-Westfalen: "Wir werden zu neuen Streikformen greifen", wo man allerdings keine substanziellen Hinweise findet, was das denn sein kann - "unkonventionelle Streikformen". Sie diagnostiziert nur, dass man bislang nicht wirklich hat durchdringen können:

»Wir haben jetzt am Wochenende beraten, dass wir mit der Streikstrategie, mit der wir angefangen haben, so nicht weiterkommen. Wir haben den Streik ja begonnen, haben dauerhaft aufgerufen. Das hat zum Ergebnis geführt, dass wir so keinen zufriedenstellenden Tarifkompromiss erreichen konnten.
Wir haben 2009 mit einer tageweisen Streikstrategie auch sehr lange gestreikt und haben festgestellt, das ist nicht die glücklichste Streikvariante, und wir haben am Wochenende diskutiert, dass wir andere Streikvarianten brauchen.«

Allerdings muss man sehen, dass die Rahmenbedingungen für neue Arbeitskampfmaßnahmen nicht besser geworden sind – eher ist vom Gegenteil auszugehen. Dass die anfängliche Sympathiewelle in den Medien und bei vielen Bürgern bei einer zweiten Welle niedriger ausfallen wird, das muss man annehmen. Aber hinzu kommen die weiterhin ungelösten strukturellen Dilemmata, mit denen der berechtigte Aufwertungskampf der Sozial- und Erziehungsdienste konfrontiert ist:
  • Zum einen handelt es sich um einen „arbeitgeberfreundlichen“ Arbeitskampf, denn anders als ein Streik bei einem Automobilhersteller oder einem anderen „normalen“ Unternehmen werden die kommunalen Arbeitgeber nicht direkt getroffen, sondern primär die Eltern (und ihre Kinder). Der ansonsten mit einem Streik verbundene massive ökonomische Druck auf den Arbeitgeber ist somit ausgeschaltet bzw. wenn überhaupt, dann nur indirekt erfahrbar, wenn die primär Betroffenen den Druck auf die kommunal Verantwortlichen richten würden, nicht aber auf die Streikenden selbst, was aber bereits am Ende der Streikaktionen vor der Schlichtung zu erleben war.
  • Zum anderen werden sich die kommunalen Arbeitgeber aus zwei für sie durchaus substanziellen und in deren Binnenraum auch nachvollziehbaren Gründen nicht bewegen in Richtung auf größere, spürbare Verbesserungen im Vergleich zu dem, was der Schlichterspruch enthält. Zum einen muss hier das strukturelle Grundproblem der Fehlfinanzierung der Kita-Systeme in den Bundesländern angesprochen werden, also die Tatsache, dass der größten Kostenblock auf die Kommunen entfällt, während der Bund viel zu wenig an der Regelfinanzierung beteiligt ist. Solange das „föderale Finanzierungsdilemma“ nicht aufgelöst wird in Richtung auf eine deutlich stärkerer anteilige Bundesfinanzierung an den laufenden Kosten der Kitas, die im Wesentlichen Personalkosten sind, wird sich an der Blockadehaltung der Kommunen, von denen sich viele in einer überaus prekären Haushaltslage befinden, nichts ändern (können). Zum anderen leisten die kommunalen Arbeitgeber auch deshalb so einen Widerstand gegen eine strukturelle Aufwertung der Sozial- und Erziehungsdienste im Tarifgefüge (denn darum geht es ja, nicht um eine „normale“ Tarifsteigerungsrunde), weil ein wirkliches Entgegenkommen hier zu schweren Verwerfungen im gesamten Tarifgefüge führen würde mit der plausiblen Folge, dass dann auch andere Berufsgruppen im öffentlichen Dienst eine entsprechende Anpassung einfordern werden.
Außerdem ist eine weitere Besonderheit zu berücksichtigen, die pessimistisch stimmt: Die Streikaktionen können sich nur auf den Bereich der kommunalen Kitas beziehen, allerdings sind fast zwei Drittel der Kita-Plätze in Hand der „freien Träger“, wobei die beiden Kirchen die größten Player darstellen. Und die dort beschäftigten Fachkräfte dürfen – auch wenn sie es wollten – gar nicht streiken.

Fazit: Auch wenn man die Aufwertungsforderung absolut unterstützt und eine entsprechende Bewegung nach oben nur wünschen mag, in der Gesamtschau sieht die Lage überaus schwierig aus und die Erfolgswahrscheinlichkeit geht eher gegen Null. Allerdings war das auch schon Anfang des Jahres vor Beginn der unbefristeten Streikaktionen die bekannte Ausgangslage und man muss zu dem Ergebnis kommen, dass die Führungsebene der Gewerkschaft strategisch eine kapitale Fehleinschätzung an den Tag gelegt hat. Wenn man irgendwo reingeht, sollte man vorher wissen, wie man wieder rauskommt, lautet eine der fundamentalen Weisheiten im Militärgewerbe, die sich aber auch auf Arbeitskämpfe übertragen lässt. Man kann nur hoffen, dass die Gewerkschaften die Erfahrungen aus diesem Jahr gründlich reflektieren und letztendlich sollte man auch deutliche Konsequenzen ziehen, allein schon deshalb, weil ansonsten innerhalb der Gewerkschaften erhebliche Frustrations- und Rückzugseffekte eintreten könnten und werden.


Zugleich sollte man denjenigen, die diese objektiv nur als Niederlage zu bezeichnende Entwicklung nutzen wollen, um darauf aufbauend ihre eigentlichen Ziele, also eine Einschränkung des Streikrechts im Bereich der öffentlichen Dienstleistungen voranzutreiben (was man auch sehen muss im Kontext mit der faktischen Einschränkung des Streikrechts für Berufs- und Spartengewerkschaften im Gefolge des „Tarifeinheitsgesetzes“), die rote Karte zeigen. Im Interesse aller Gewerkschaften.