Montag, 29. Juni 2015

Ganz weg, ein wenig weg, so lassen, wie es ist oder noch härter auch für die Älteren. Sanktionen im Hartz IV-System vor dem Arbeits- und Sozialausschuss des Bundestages

Eines der am heftigsten umstrittenen Themen im Grundsicherungssystem sind die Sanktionen. Für die einen ein Ding der Unmöglichkeit, dass man das Existenzminimum weiter beschneidet bis hin zu einer "Totalsanktionierung". Von Totalsanktionen waren im vergangenen Jahr 7.500 Hartz-IV-Bezieher betroffen, davon knapp 4.000 unter 25 Jahren. Die andere Seite sieht in den Sanktionen ein notwendiges Element, mit dem der notwendige Druck aufgebaut werden kann, sich regelkonform im Sinne des Grundsicherungssystems zu verhalten. Diese Lagerbildung mit einigen Grautönen dazwischen wurde erneut deutlich bei einer Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages im Kontext der Forderungen nach einer generellen Abschaffung der Sanktionen durch die Fraktion Die Linke (18/3549, 18/1115) sowie seitens der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nach einem Sanktionsmoratorium, außerdem sollen die Kürzungen künftig auf höchstens zehn Prozent des Regelsatzes begrenzet werden (18/1963).

Mehr als eine Million Sanktionen wurden im vergangenen Jahr gegen Hartz-IV-Bezieher verhängt – weil sie einen Termin im Jobcenter versäumten, eine arbeitsmarktpolitische Maßnahme verweigerten oder einen angebotenen Job ablehnten - wobei man darauf hinweisen muss, dass der größte Anteil der verhängten Sanktionen - also Leistungskürzungen - auf den Tatbestand eines Meldeversäumnisses zurückzuführen ist, nicht etwa auf die Ablehnung eines Stellenangebots. Und auch die Verweigerung einer Maßnahme kann ja durchaus - wie Praktiker wissen - nicht nur in einer allgemeinen Unlust des Leistungsbeziehers begründet sein, sondern durchaus auch in dem, was als "Maßnahme" gemacht werden soll.

Wie dem auch sein: »Bei einer öffentlichen Anhörung des Ausschusses für Arbeit und Soziales ... sprach sich eine Mehrheit der geladenen Experten für die Beibehaltung von Sanktionsmöglichkeiten im Bereich der Grundsicherung für Arbeitssuchende (SGB II) aus. Vertreter aus dem Bereich der Wirtschaft nannten das System der Sanktionen ausgewogen. Auch Landkreistag und Städtetag sprachen sich - ebenso wie der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) gegen eine generelle Abschaffung oder ein Moratorium der Sanktionen aus«, berichtet der Pressedienst des Bundestages in seinem Bericht Streit um SGB II-Sanktionen. Es gab aber auch davon abweichende Stellungnahmen.

Eine klare Ablehnung der Sanktionsregelungen kam von der Diakonie Deutschland. In deren Stellungnahme zur Anhörung heißt es mehr als deutlich:

»Das Grundrecht auf ein soziokulturelles Existenzminimum darf nicht beschnitten werden. Sanktionen führen zunehmend in existenzgefährdende Armut und Wohnungslosigkeit. Zudem gibt es keinen wissenschaftlichen Beleg für positive Effekte von Sanktionen auf die Leistungsberechtigten. Daher setzt sich die Diakonie Deutschland für die Abschaffung von Sanktionen im SGB II, eine Verringerung von Sanktionsinstrumenten und bessere Hilfen für Langzeitarbeitslose ein. Jede Begrenzung der bisherigen Sanktionspraxis ist bereits ein wichtiger Fortschritt im Vergleich zu einer Situation, in der sämtliche existenzsichernden Leistungen gestrichen werden können und Menschen in existenzbedrohliche Not geraten. Die Diakonie Deutschland begrüßt den Beschluss des Sozialgerichts Gotha vom 26. Mai dieses Jahres, das Bundesverfassungsgericht zur Frage der grundsätzlichen Zulässigkeit von Sanktionen anzurufen.«

Soweit wie die evangelische Konkurrenz wollte die katholische Seite, vertreten durch die Caritas, dann nicht gehen. Die Caritas fokussiert neben partiellen Abmilderungen bestehender allgemeiner Sanktionsregelungen vor allem auf die besondere Situation der jungen Menschen unter 25, für die es im SGB II ein verschärftes Sanktionsregime gibt: Diese verschärften Sanktionen für Jugendliche seien nicht vertretbar. Sie könnten durchaus kontraproduktiv wirken, wenn etwa durch einen Verlust der Wohnung die Jugendlichen in kriminelle Bereiche abrutschen. In ihrer Stellungnahme schreibt die Caritas unter Nummer 1 der Forderungen: »Die Sonderregelungen für Jugendliche sind noch in dieser Legislaturperiode abzuschaffen. Zu scharfe Sanktionierung wirkt bei Jugendlichen kontraproduktiv. Wissenschaftliche Studien zeigen, dass ein Teil der Jugendlichen bei scharfer Sanktionierung das Vertrauen zu den Jobcentern verliert. Der Kontakt zu ihnen geht verloren und sie „verabschieden“ sich aus der Förderung. Eine Basis für wirksame Zusammenarbeit mit jungen Menschen besteht nicht mehr.«

Diese Ausführungen haben offensichtlich Stefan von Borstel, der als einer der wenigen über die Anhörung berichtet hat, offensichtlich zu seiner fragend ausgestalteten Überschrift inspiriert: Führen Hartz-IV-Sanktionen zu Straftaten?  Seine Wahrnehmung aus der Anhörung: »Viele Experten plädierten aber für eine Entschärfung der Sanktionen – insbesondere für Arbeitslose unter 25 Jahren. Gerade bei Jugendlichen könnten harte Sanktionen dazu führen, dass sie sich vollständig zurückzögen und in die Kriminalität abtauchten, um sich das Lebensnotwendigste zu besorgen. Nach einer aktuellen Studie sind rund 20.000 junge Menschen komplett aus der Betreuung von Jobcenter oder Jugendamt herausgefallen. Über ihren Verbleib weiß man nichts.« Dazu auch der Blog-Beitrag Durch alle Netze gefallen, vergessen und jetzt ein wenig angeleuchtet: Der Blick auf die "entkoppelten Jugendlichen" vom 11.06.2015.

Von mehreren Seiten wurde auch diese Forderung vertreten: Die Gelder für die Unterkunft sollten im Sanktionsfall nicht gekürzt werden, damit die Hartz-IV-Empfänger nicht auch noch ihre Wohnung verlieren und in die Obdachlosigkeit abrutschten, so Sozialverbände, Kommunen und Bundesagentur für Arbeit.

Irgendwo in der Mitte hat sich der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) verortet. »Für eine stärkere Gewichtung des Förderns im System des "Forderns und Förderns" sprach sich der Vertreter des DGB aus. Die Eingliederungsvereinbarungen müssten individueller als bisher auf den Einzelnen zugeschnitten seien. Außerdem sollten Leistungskürzungen nach Ansicht des DGB auf maximal 30 Prozent beschränkt werden«, berichtet der Pressedienst des Bundestages.

Erwartbar anders die Position der Arbeitgeber, auch hinsichtlich der Forderung nach einer Abschwächung des rigiden Sanktionsregimes für die Unter-25-Jährigen. Dazu der Pressedienst des Deutschen Bundestages in seinem Bericht über die Anhörung:

»Aus Sicht der Bundesvereinigung Deutscher Arbeitgeberverbände (BDA) sind die "großen Erfolge" bei der Integration Langzeitarbeitsloser in den Arbeitsmarkt auch auf die Sanktionen zurückzuführen. Diese seien ein Kernelement des Prinzips von "Fördern und Fordern", hieß es von der BDA ebenso wie vom Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH). Die Regelung, wonach Unter-25-Jährige härtere Sanktionen befürchten müssen als Über-25-Jährige, ist nach Meinung der Vereinigung der Bayrischen Wirtschaft angemessen. Auch die BDA vertrat die Ansicht, dass diese Sanktionen zu einer stärkeren Kooperation der Arbeitssuchenden mit den Jobcentern führen würden. Von einer Abschwächung solle daher abgesehen werden, sagte die BDA-Vertreterin.«

Aber wer jetzt denkt, die Arbeitgeber gerieren sich am radikalsten hinsichtlich der Sanktionsfrage, der hat nicht mit den kommunalen Spitzenverbänden gerechnet - ein echtes Trauerspiel, wenn man bedenkt, dass in deren Beritt auch die Jugendhilfe fällt und man einfach mal mit seinen eigenen Leuten vor Ort hätte sprechen müssen, wie denn so die harten Sanktionen "wirken" bei den jungen Menschen:

»Sowohl der Deutsche Städtetag als auch der Deutsche Landkreistag kritisierten die unterschiedliche Behandlung von jungen und älteren Arbeitslosen. Schon im Interesse der Verwaltungsvereinfachung sollten künftig auch für die Älteren die strengeren Regelungen der Unter-25-Jährigen gelten, forderte die Vertreterin des Städtetages. BDA und ZDH schlossen sich der Forderung an.«

Also nicht die härteren Regelungen für die Jugendlichen runter fahren, sondern die für die Erwachsenen entsprechend nach oben anpassen. Das kann man beim besten Willen nur durch eine funktionärsbedingte erhebliche Eintrübung der Sicht auf die Realitäten vor Ort erklären.

Alle schriftlichen Stellungnahmen wurden in der Ausschussdrucksache 18(11)394 veröffentlicht.

Nichts Neues, alte Positionierungen werden hier aufgewärmt, vgl. dazu beispielsweise nur den Blog-Beitrag Das große Durcheinander auf der Hartz IV-Baustelle.  Sanktionen verschärfen oder ganz abschaffen, mit (noch) mehr Pauschalen das administrative Schreckgespenst Einzelfallgerechtigkeit verjagen oder den „harten Kern“ der Langzeitarbeitslosen aus dem SGB II in das SGB XII "outsourcen"? vom 19.06.2014, also vor genau einem Jahr.

So wird das nichts, wenn einem an der entscheidenden Grundsatzfrage gelegen ist: Sanktionen im Grundsicherungssystem ja oder nein? Diese Grundsatzfrage berührt ein zentrales Konstruktionsprinzip des auf dem SGB II basierenden Grundsicherungssystems: Es handelt sich um ein "nicht-bedingungsloses Grundeinkommen", zumindest für nicht wenige unter den Hartz IV-Empfänger, für die der Leistungsbezug nicht nur eine überschaubare transitorische Lebensphase ist. Das ist unvermeidlich: Würde man, wie das die Linke fordert, generell alle Sanktionen abschaffen, dann wäre das ein erheblicher Schritt in Richtung auf ein "bedingungsloses Grundeinkommen". Tragende Säulen der bestehenden Hartz IV-Architektur würden zusammenbrechen, deshalb auch der Widerstand der Arbeitgeber, aber auch - so die These hier - die vorsichtige Positionierung des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) irgendwo zwischen Baum und Borke.

Einen weiterführenden Schritt wird es wohl erst geben, wenn sich das Bundesverfassungsgericht der Grundsatzfrage annimmt bzw. annehmen muss, gibt es nun doch den Vorlagenbeschluss S 15 AS 5157/14 des Sozialgerichts Gotha an das Bundesverfassungsgericht, in dem explizit die Verfassungswidrigkeit der Sanktionsregelung postuliert und eben zur Prüfung vorgelegt wird. Dazu auch ausführlicher der Blog-Beitrag: Hartz IV: Sind 40% von 100% trotzdem noch eigentlich 100% eines "menschenwürdigen Existenzminimums"? Ob die Sanktionen im SGB II gegen die Verfassung verstoßen, muss nun ganz oben entschieden werden.
Wir werden uns noch gedulden müssen in dieser Angelegenheit.

Nachtrag (03.07.2015):
Eine Teilnehmerin an der Anhörung des Ausschusses hat mich per Mail darauf hingewiesen, dass eine Aussage, die dem Artikel des Pressedienstes des Bundestags entnommen und hier zitiert wurde, nicht stimmen könne - hinsichtlich der verschärften Sanktionen für die Unter-25-Jährigen.
Offensichtlich ist den Verfassern des Beitrags in einer ersten Version - aus der ich zitiert habe - ein Fehler unterlaufen. Die Passage, die ich dieser ersten Variante entnommen und in meinem Beitrag (s.o.) zitiert habe, ging so:

»Sowohl der Deutsche Städtetag als auch der Deutsche Landkreistag kritisierten die unterschiedliche Behandlung von jungen und älteren Arbeitslosen. Schon im Interesse der Verwaltungsvereinfachung sollten künftig auch für die Älteren die strengeren Regelungen der Unter-25-Jährigen gelten, forderte die Vertreterin des Städtetages. BDA und ZDH schlossen sich der Forderung an.«

Wenn man die gleiche Quelle jetzt anschaut, dann findet man diese (inhaltlich richtige) Variante:

»Sowohl der Deutsche Städtetag als auch der Deutsche Landkreistag kritisierten die unterschiedliche Behandlung von jungen und älteren Arbeitslosen. Schon im Interesse der Verwaltungsvereinfachung sollten künftig auch für die Jüngeren die Regelungen der Über-25-Jährigen gelten, forderte die Vertreterin des Städtetages.«

Damit wäre klar gestellt, dass die kommunalen Spitzenverbände keineswegs eine Übertragung des schärferen Sanktionsregimes auf die älteren Hartz IV-Empfänger fordern, sondern umgekehrt eine "Abschwächung" für die Jüngeren befürworten. Man hätte sich vom Pressedienst des Bundestages allerdings gewünscht, dass er auf die zwischenzeitlich offensichtlich vorgenommene Korrektur wenigstens in Form einer Fußnote offenlegt, so muss man den Eindruck bekommen, dass die jetzt vorhandene Formulierung von Anfang an so da drin stand. Dem war nicht so.