Donnerstag, 4. Juni 2015

Arbeitslose und Niedriglöhner als Spielball der "Unterhaltungsindustrie". Aus den Latrinen-Etagen der Fernsehwelt

Wir sollten uns wahrlich nicht über die Geschichte erheben und darauf bestehen, dass unsere Gesellschaften durchgängig auf einem viel höheren Entwicklungsniveau angekommen sind. Beispielsweise wird man als ein Beleg für das Wirken des zivilisatorischen Prozesses anmerken, dass heutzutage Gott sei Danke keine Gladiatorenkämpfe ausgefochten werden, in denen Menschen zu Tode kommen. Daumen runter. Nein, das Stadium haben wir verlassen, wir sind jetzt auf einer ganz anderen, höheren Umlaufbahn.

Das mag für viele Bereiche unseres Daseins der Fall sein, nicht aber für einen Teil der Medien, möchte man ausrufen, wenn man diese Nachricht aus den Latrinen-Etagen der modernen "Unterhaltungsindustrie" zur Kenntnis nehmen muss: BBC plant "Hunger Games" für Arbeitslose und Arme. »In Großbritannien soll demnächst eine Show starten, in der ausschließlich Arbeitslose und Geringverdiener gegeneinander antreten. Kritiker sprechen von "Hungerspielen", um die Massen zu unterhalten«, berichtet Katja Mitic-Pigorsch in ihrem Artikel.

"Poverty Porn" nennen es die Kritiker in Großbritannien, wenn finanzielle Not im Fernsehen zur Schau gestellt wird, um die Einschaltquote in die Höhe zu treiben. Doch genau solch einen "Armutsporno" soll nun ausgerechnet die BBC planen. Der Sender will eine fünfteilige Reality-Doku mit dem Titel "Britain's Hardest Grafter" zeigen, übersetzt etwa der "härteste Malocher" oder das "beste Arbeitstier".

Gegeneinander im Wettstreit antreten dürfen dabei nur Arbeitslose und Geringverdiener, um am Ende 15.000 Pfund (etwa 20.000 Euro) Siegprämie zu erhalten - allerdings nur der Sieger, alle anderen bekommen gar nichts, sie gehen leer aus.

Bekanntlich kann man jeden Müll irgendwie in einem Legitimationsgeschwafel verpacken: Die »BBC verteidigt das Konzept als "seriöses soziales Experiment", um die Auswirkungen von Arbeit auf das Leben eines Menschen darzustellen und den Niedriglohnsektor in den Fokus der Berichterstattung zu rücken.« Dazu auch der Artikel BBC defends reality show involving poor, dubbed 'Hunger Games'.

Zurzeit werden aber 25 Teilnehmer über 18 Jahren gesucht, die im Jahr weniger als 15.500 britische Pfund (umgerechnet etwa 21.000 Euro) zum Leben zur Verfügung haben. Kandidaten also, die trotz Schulabschluss oder Ausbildung entweder einen Job haben, in dem sie höchstens den Mindestlohn verdienen, oder Menschen, die gerade aktiv auf der Suche nach einer Stelle und/oder abhängig von Sozialhilfe sind.

Übrigens - die potenzielle Grundgesamtheit für Kandidaten ist riesig: »2014 sollen laut Schätzungen mindestens 13 Millionen Einwohner an der Armutsgrenze gelebt haben. Während früher vor allem Arbeitslose betroffen waren, sorgen steigende Lebenshaltungskosten, Mieten und Lohndumping dafür, dass immer mehr Menschen trotz ihres Jobs nicht mehr genug verdienen, damit es zum Leben reicht. Viele sind auf Essenspenden der Kirchen angewiesen.« Dazu beispielsweise Hungernd in London. In Großbritannien steigt die Nachfrage nach kostenlosen Lebensmitteln enorm aus dem Dezember 2014.

Das ist alles in Großbritannien keine neue Entwicklung:

«Erstmals heftig diskutiert wurde das Konzept "Poverty Porn" ..., als Channel 4 im Jahr 2014 die Reality-Doku "Benefits Street", zu deutsch also die "Straße der Sozialleistungen", zeigte. Darin wurden Familien der Unterschicht aus 13 Nationen ein Jahr lang ungefiltert in ihrem Alltag mit der Kamera begleitet.
Die erste Folge der Sendung erreichte eine sagenhafte Quote von 4,3 Millionen Zuschauern, später sogar noch mehr. Allerdings gingen daraufhin auch Dutzende Beschwerden ein. In der Kritik standen nicht nur der Sender wegen der Stigmatisierung der Sozialhilfeempfänger, sondern auch die Bewohner selbst, denen Faulheit und Ausbeutung des Sozialstaates auf Kosten der Steuerzahler vorgeworfen wurde. Für den Sender war die hitzige Debatte natürlich eine gelungene PR.«

Ach so, zurück zu den armen Gladiatoren aus den vergessenen Schichten unserer so brutalen Vorgänger-Welt: Auch durch moderne Medien bedingt assoziieren wir alle mit Gladiatoren Sklaven und Kriegsgefangene, die keine Alternative hatten zu dem Joch, das ihnen da auferlegt wurde. Und anders als die Gladiatoren kommen die Niedriglöhner und Arbeitslosen im britischen Fernsehen doch nicht zu Tode. Aber wie immer sah und sieht die Welt differenzierter aus:

Bereits im 1. Jahrhundert v. Chr. verpflichteten sich auch freie Bürger als Gladiator. Obwohl Gladiatoren gesellschaftlich noch niedriger als Sklaven standen, war das Interesse, Gladiator zu werden, zeitweilig so hoch, dass der Senat dies durch ein Gesetz einzuschränken versuchte. So sollen gegen Ende der Republik fast die Hälfte der Gladiatoren ehemals freie Bürger gewesen sein, die mit dem Eintritt in den Berufsstand der Gladiatoren ihre Freiheit aufgaben.

Wie das? Freiwillig? Ein Erklärungsansatz zeigt wieder mal auf: Sozialpolitik war und ist überall: Ein Gladiator hatte nur ein- bis dreimal pro Jahr zu kämpfen und wurde in der restlichen Zeit gut versorgt. Die medizinische Versorgung der Gladiatoren galt als beispielhaft in der damaligen Zeit.
Zumindest das mit der beispielhaften medizinischen Versorgung würden sich (nicht nur) viele Briten bestimmt auch heute wünschen.