Dienstag, 3. März 2015

Wie die Dinge zusammenhängen: Wenn Polen in Finnland ein Kraftwerk bauen, im Frankfurter Flughafen die Putzkräfte streiken, Leiharbeitern in der Pflege ein Tausender im Monat verloren geht und S-Bahnhöfe von Arbeitskräften befreit werden

Beginnen wir mit der Rechtssache C-396/13. Das ist ein Aktenzeichen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) und der spricht sich gegen Lohndumping bei entsandten Beschäftigten aus. Das Gericht ist mit Urteil vom 15.02.2015 zu dem Ergebnis gekommen, dass Arbeitnehmern entsprechend der geltenden Kollektivverträge bezahlt werden müssen, unabhängig davon in welchem EU-Mitgliedsstaat der Arbeitgeber seinen Sitz hat.  In dem vom EuGH zu beurteilenden Fall hatte ein polnisches Unternehmen seinen polnischen Arbeitnehmern, die in Finnland ein Kraftwerk errichteten, den örtlichen kollektivvertraglichen Mindestlohn, Urlaubszuschüsse und Zusatzleistungen vorenthalten. Das fand das EuGH nun gar nicht korrekt, denn es vertritt die Auffassung, dass sich Fragen, die den Mindestlohnsatz betreffen, nach dem Recht des Aufnahmemitgliedstaates, hier also Finnland, bestimmen. Die Pressemitteilung des EuGH ist folglich überschrieben mit Der Gerichtshof klärt den Begriff „Mindestlohnsatz“ entsandter Arbeitnehmer. Kurz zum Sachverhalt: ESA, ein polnisches Unternehmen, schloss in Polen nach polnischem Recht Arbeitsverträge mit 186 Arbeitnehmern und entsandte diese dann an ihre finnische Zweigniederlassung zur Ausführung von Elektroarbeiten auf der Baustelle des Kernkraftwerks Olkiluoto in Eurajoki, Finnland. Den Arbeitnehmern wurde der finnische Mindestlohn, der dort in allgemeinverbindlich erklärten Tarifverträgen geregelt ist, vorenthalten. Dem hat der EuGH nun einen Riegel vorgeschoben. Wäre die Entscheidung anders ausgefallen, dann hätten wir angesichts des enormen Wohlstands- und damit zusammenhängend auch Lohngefälles innerhalb der EU ein echtes Lohndumpingproblem durch die Inanspruchnahme deutlich billigerer Arbeitskräfte, die aus anderen EU-Ländern entsandt werden. So weit die gute Nachricht.

Weiter geht es mit den schlechten Nachrichten - und die kommen vom deutschen Arbeitsmarkt.

Bau-Gewerkschaft ruft zu Putzstreik auf, so ist ein Artikel überschrieben: »Mit einem Putzstreik will die Bau-Gewerkschaft auf „unsaubere Praktiken“ des Flughafenbetreibers Fraport hinweisen. Anlass ist die Vergabe eines Reinigungsauftrags im Terminal 2 an einen Dienstleister von außen.« Die IG BAU ruft das Putzpersonal erst einmal zu einem zweistündigen Warnstreik am Frankfurter Flughafen auf. Was ist da los?

»Die bislang von der Fraport-Tochter GCS erbrachten Reinigungsleistungen im Terminal 2 seien per Ausschreibung an den neuen Dienstleister Sasse Aviation Service vergeben worden. Die Firma wolle die rund 100 Beschäftigten zwar übernehmen, aber nur zu schlechteren Bedingungen als bislang. Die GCS ihrerseits weigere sich, die teils schon seit Jahrzehnten bei ihr beschäftigten Leute in anderen Flughafenbereichen einzusetzen, kritisierte die IG BAU. Stattdessen werde der Anteil der Leiharbeiter weiter ausgebaut.«

Und was sagt die Fraport dazu? Man achte auf die Wortwahl: »In der Ausschreibung sei festgehalten, dass die neuen Arbeitsverträge denen bei der GCS „wirtschaftlich entsprechen“ müssten.«
Wieder ein Beispiel für das grassierende kostensenkungsgetriebene Outsourcing in diesem Land, was mit dazu beiträgt, dass die unteren Einkommensgruppen die großen Verlierer sind im Jobwunder-Land Deutschland.

Und was haben wir gerade lesen müssen? Man lagert die teilweise seit vielen Jahren Beschäftigten an eine andere Firma aus und stockt gleichzeitig die Leiharbeit auf? Auch dort zahlen die Beschäftigten im wahrsten Sinne des Wortes die Zeche. Dazu ein Beispiel aus der Pflege: 1000 Euro weniger für Leiharbeiter in der Pflege.

»Leiharbeit ist ein echter Lohndrücker. Etwa in der Pflege, wo der Lohnabstand zwischen Festangestellten und Leiharbeiten fast 1000 Euro ausmacht. Dies geht aus der Antwort der Bundesagentur für Arbeit (BA) auf eine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Sabine Zimmermann (LINKE) hervor ... Demnach verdienten Gesundheits- und Krankenpflegerinnen im Bereich der Leiharbeit als Vollzeitbeschäftigte durchschnittlich 2047 Euro brutto im Monat. Ihre fest angestellten Kolleginnen erhielten hingegen 3014 Euro brutto. Obwohl die Arbeitsbelastung dieselbe war, betrug der Lohnunterschied zwischen beiden Gruppen fast 1000 Euro. Im Bereich der Altenpflege ist die Entlohnung noch mieser. Hier lag der Niedriglohnanteil bei den Leiharbeitskräften bei 56 Prozent. Unter den fest Beschäftigten lag die Quote bei 35,9 Prozent. Der Verdienst als Leiharbeitskraft betrug durchschnittlich 1879 Euro brutto im Monat.«

Das muss man nicht weiter kommentieren.

Ganz offensichtlich haben wir in einigen Branchen und für viele Menschen ein echtes Lohndrückerei-Problem. Aber wenn man ganz zynisch veranlagt ist, was manche sind, könnte man argumentieren, dass das dann immer noch besser sei, als sein Leben in der Hartz IV-Arbeitslosigkeit zu fristen. Aber selbst diese mehr als traurige "Alternative" zur vollständigen Erwerbslosigkeit wird immer stärker angefressen durch die fast nur noch als suchtförmig zu bezeichnende Ausprägung des Rationalisierungswahns in Deutschland mit dem Ziel, menschliche Arbeitskraft überflüssig zu machen. Auch hierzu ein Beispiel aus der Berichterstattung: Kameras ersetzen Aufsichtskräfte.

»Die Berliner S-Bahn zieht ihr festes Personal von immer mehr Bahnhöfen ab. Inzwischen gibt es an rund 100 der 166 Bahnhöfe in Berlin und Brandenburg keine ständigen Aufsichten mehr. Vom kommenden Jahr an soll es noch an 20 sogenannten Stammbahnhöfen feste Aufsichten geben. An den anderen Bahnhöfen sollen je nach Bedarf 120 mobile Mitarbeiter zum Einsatz kommen. In Zukunft geben sich die Zugführer mit Hilfe von Kameras und einem Monitor im Führerstand selbst das Abfahrtsignal.«

Wozu der Sparwahn führen kann, erleben wir doch täglich - wenn man ehrlich ist - um uns herum. Bröckelnde Brücken und andere Bauten, ein seit Jahren geführtes Leben von der Substanz. Überall wird bis auf die Knochen runter gespart und das wird dann von den Hohepriestern unserer Tage, den Betriebswirten, mit bunten und schönen Powerpoint-Folien überdeckt - aber die Auswirkungen auf die "Moral der Truppe" sind gravierend.

Apropos "Moral der Truppe" - das war eben bildhaft gemeint, aber wir können das auch mal ganz real betrachten, um dann zu einem hier ebenfalls thematisch passenden Befund zu kommen: Der Sparwahn frisst seine Kinder. Die Bundeswehr. Eine demoralisierte Armee, so haben Thorsten Jungholt und Andreas Maisch ihren Artikel überschrieben. Und wenn es nicht so traurig wäre und zugleich so bezeichnend für unsere Zeit der Controlling-Fetischisten an den Schaltstellen der Entscheidungen, dann müsste man eigentlich bei dem folgenden Beispiel einfach nur laut lachen: Zitiert wird Oberstleutnant André Wüstner, der Vorsitzende des Bundeswehrverbandes, mit den Worten: »So etwas wie die Besenstiel-Affäre ist für das innere Gefüge der Truppe eine Katastrophe.« Was ist denn das? Eine "Besenstiel-Affäre"? Hier die Auflösung:

»Bei einer Nato-Übung vor wenigen Monaten in Norwegen hatten Panzergrenadiere das fehlende Waffenrohr eines Radpanzers vom Typ Boxer mit einem schwarz angestrichenen Besenstiel simuliert. Die Geschichte sorgte international für Hohn und Spott. Eine solche Blamage, sagt Oberstleutnant Wüstner, "macht auch keine Zulagenerhöhung wett". Zumal das betroffene Panzergrenadierbataillon 371 nicht irgendein Verband ist. Es ist der deutsche Beitrag zur "Very High Readiness Joint Task Force", der neuen superschnellen Eingreiftruppe, mit der die Nato auf Russlands Aggression in der Ukraine reagiert hat. Bei der Aufstellung dieser Speerspitze allerdings war die Bundeswehr alles andere als superschnell. Bei den ersten Übungen der Soldaten fehlten funktionierende Radpanzer vom Typ Boxer, Nachtsichtgeräte vom Typ Lucie (76 Prozent), Pistolen P8 (41 Prozent) und Maschinengewehre MG3 (31 Prozent).«

Das ist wirklich peinlich - und zugleich symptomatisch für den Zustand der Truppe und damit auch für die Arbeitsbedingungen (die sich an anderer Stelle durch neue Maßnahmen der "Attraktivitätsagenda" erheblich verbessern sollen - wir sind hier auf der Lieblingsbaustelle der Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen, der es um die Vereinbarkeit von Krieg und Familie z.B. durch Kasernenkitas für Soldatenkinder oder um die Modernisierung der Kasernenstuben geht. Truppenintern wird das übrigens "FKK" abgekürzt: "Flachbildschirm, Kita, Kühlschrank". 
Aber abschließend wieder zurück zu den nicht nur real schmerzhaft spürbaren Folgen der überall grassierenden Verengung auf eine rein zahlengetriebene Betriebswirtschaft. Dazu gehört auch eine offensichtliche semantische Vergewaltigung. Um aus den Reihen der Bundeswehr - das ließe sich jetzt aber von vielen sofort auf ihre eigenen Erfahrungsbereiche übertragen - ein Beispiel zu nennen: "dynamisches Verfügbarkeitsmanagement" ist so ein Sprechdurchfall. Was damit gemeint ist?

»Das besagt, dass jeder Verband nicht mehr so viele Hubschrauber oder Panzer bekommt, wie er eigentlich brauchte, sondern im Durchschnitt 75 Prozent davon. Will ein Verband üben, muss er sich das Gerät erst von einer anderen Einheit beschaffen.«

Das wäre doch ein Ansatz, den man auch auf Krankenhäuser, Altenheime, Kitas usw. übertragen könnte. Aber Ironie wieder aus und ein letzter Blick in den Artikel von Thorsten Jungholt und Andreas Maisch. Sie berichten darüber, dass ein Hauptfeldwebel, nachdem er alle unteren Instanzen ohne Resonanz bearbeitet hat, der Ministerin persönlich einen langen Brief geschrieben hat, in dem er auch auf das eben angesprochene "dynamische Verfügbarkeitsmanagement" eingeht. Wie das funktionieren solle, schreibt nun der Hauptfeldwebel, wisse niemand so genau. "Einigkeit aber besteht in der Auffassung, dass es nicht funktionieren kann." Da werden sich viele andere wiederfinden.

Aber dann kommt noch ein Hinweis des Herrn Hauptfeldwebels an die Ministerin, den man mit etwas Phantasie durchaus übertragen kann auf eine generelle Verhaltensbeschreibung vieler Arbeitnehmer in Deutschland, die nicht aufbegehren, sondern selbst Hand anlegen angesichts der miesen Bedingungen um sie herum: Der Briefe schreibende Soldat von der Mangelfront »klagt über die Mängel an "praktischer, sinnvoller, zeitgerechter persönlicher Ausrüstung". Die Folge: Die Soldaten beschafften sich die wichtigsten Utensilien privat im Army Shop, für "im Schnitt 500 Euro im Jahr".« Geht doch, könnte man zynisch einwerfen. So lange die so was machen - keine Gefahr für das Gesamtsystem. Apropos und schlussendlich - das "System". Die Spitze sieht das natürlich ganz anders - und wenn es schlimm kommt, dann glauben die das auch noch: Die Bundeswehr sei ein "Sicherheitsunternehmen, Reederei, Fluglinie, Logistikkonzern und medizinischer Dienstleister, alles auf Topniveau und weltweit vernetzt", heißt es in Werbeprospekten, die Interessierten in den - natürlich muss es heute so heißen - Karrierecentern der Streitkräfte in die Hand gedrückt werden. 
Die deutsche Armee, eine wunderbare Welt in Flecktarn? Eher mit ganz vielen unansehnlichen Flecken, die immer größer werden und verdammt jucken.

Und auch das liest sich fast wie ein Symboltext für die Zustände in vielen anderen Unternehmen und Organisationen:

»Dank andauernden Missmanagements bei der vor 13 Jahren privatisierten Bekleidungsgesellschaft der Bundeswehr war die Auslieferung von Uniformen und Rucksäcken zuletzt ins Stocken geraten, dem Unternehmen drohte die Pleite.«

Ach ja, die Privatisierung. Und wer holt die Kartoffeln aus dem Feuer? Viele wissen die Antwort schon, hier der Vollständigkeit halber die Auflösung aus dem Artikel: »Um die Versorgung mit Feldanzügen sicherzustellen, schlug von der Leyen dem Parlament einen Staatskredit in Höhe von elf Millionen Euro vor. Das Geld wurde vorige Woche bewilligt, allerdings nur zähneknirschend.«