Dienstag, 17. März 2015

Untiefen (nicht nur) der Statistik: Wie Arbeit gesucht wird und der schnelle Blick auf Millionen gedopter Arbeitnehmer. Aber was ist eigentlich Arbeit?


Das Internet in seinem Lauf hält weder Ochs noch Esel auf. Diese - zugegeben etwas modernisierte - Variante aus der Zitatesammlung deutscher Klassiker könnte einem in den Sinn kommen, wenn man die Berichte zur Kenntnis nimmt über die Ergebnisse einer neuen Studie, die sich mit der Frage beschäftigt hat, wie heute nach Arbeit gesucht wird. Die Abbildung von Statista veranschaulicht die Erkenntnisse, die man herausgefunden zu haben scheint: »Das Internet ist mittlerweile für die Suche nach einem neuen Arbeitsplatz unverzichtbar geworden. Das zumindest legt die von Monster veröffentlichte Studie "Bewerbungspraxis 2015" nahe. Demnach sind Internet-Stellenbörsen der mit Abstand populärste Informationskanal bei der Jobsuche. 66,4 Prozent der Befragten gaben an, sie für die Arbeitsplatz-Recherche genutzt zu haben. Auf Platz zwei folgen Unternehmens-Webseiten mit 37,9 Prozent vor Karrierenetzwerken (z.B. XING, LinkedIn) mit 36,5 Prozent. Die Arbeitsagentur oder Zeitschriften und Zeitungen spielen dagegen nur eine nachgeordnete Rolle bei der Stellensuche. Für die Studie wurden rund 7.000 Stellensuchende und Karriereinteressierten im Internet von Mai bis Juli 2014 befragt.« Zwei Drittel aller Stellensuchenden nutzen also Internet-Stellenbörsen - hingegen machen nur 24,% Prozent von der Bundesagentur für Arbeit Gebrauch, dem angeblich modernen Dienstleister am Arbeitsmarkt. Jetzt kann man einen Strich ziehen und sagen: Wenn Arbeitgeber potenzielle neue Arbeitnehmer finden wollen, dass sollten sie die Internet-Stellenbörsen nutzen. Ein wirklich schönes Ergebnis für den Auftraggeber der Studie - bei dem es sich um die Stellenbörse Monster handelt.

Wenn man in die Zusammenfassung der Studie "Bewerbungspraxis 2015" schaut, dann kann man diese methodischen Hinweise entdecken:

»In der diesjährigen „Bewerbungspraxis 2015“ wurden Antworten von 7.040 Studienteilnehmern als Datengrundlage herangezogen. Hierzu wurde im Frühjahr 2014 ein webbasierter Fragebogen durch die Universität Bamberg entwickelt. Dieser war während der Monate Mai bis Juli 2014 online verfügbar. Um möglichst viele Personen von einer Teilnahme zu überzeugen wurde die Studie in der relevanten Zielgruppe der Stellensuchenden und Karriereinteressierten mittels persönlichen Anschreiben, Newsletter und Bannerwerbung beworben.«

Also anders gesagt - ein webbasierter Fragebogen wird zum Ausfüllen angeboten an Orten, wo Menschen im Web unterwegs sind, weil sie sich über Stellenangebote informieren bzw. für diese interessieren. Beispielsweise auf oder im Umfeld einer Stellenbörse. Dass dann die Stellensuche über Internet-Stellenbörsen weit vorne liegt, überrascht - nicht. Das spricht nicht gegen die Auskünfte der tatsächlich Befragten, aber das ist nun mal in keinerlei Hinsicht repräsentativ, sondern hoch plausibel ein ziemlich verzerrtes Teil-Kollektiv des großen Kollektivs.

Ach, die Statistik. Nicht nur bei Verallgemeinerungen muss man vorsichtig sein, auch bei der Gewichtung von Zahlen. Schauen wir uns ein weiters aktuelles Beispiel an, mit einer großen sozialpolitischen Relevanz. "Der Leistungsdruck beherrscht unser Leben viel zu stark", so ist ein Interview mit einem "Gehirndoping-Experten" überschrieben. Da werden sich viele wiederfinden können. Oder wie wäre es mit diesen Schlagzeilen: Fünf Millionen Deutsche dopen am Arbeitsplatz„Hirndoping“ gegen Stress am Arbeitsplatz nimmt zu,  Immer mehr Deutsche dopen sichHirndoping an Millionen Arbeitsplätzen oder auch diese hier: Beim Job nur mit Pillen.

Was ist los? Eine Drogenepidemie in Deutschland? Die Werktätigen im Dauerrausch? Offensichtlich haben die alle abgeschrieben, also schauen wir in die Quelle für diese alarmierenden Meldungen: Es handelt sich um den DAK-Gesundheitsreport 2015 mit einem Update zum Thema Doping am Arbeitsplatz, Update deshalb, weil der Gesundheitsreport dieser Krankenkasse der Fragestellung vor einigen Jahren schon einmal nachgegangen ist.

Wie sehen die Fakten aus? Schauen wir in die Zusammenfassung der Studienergebnisse auf der Webseite der DAK:

»Knapp drei Millionen Deutsche haben verschreibungspflichtige Medikamente genutzt, um am Arbeitsplatz leistungsfähiger zu sein oder um Stress abzubauen ... Die Anzahl der Arbeitnehmer, die entsprechende Substanzen schon zum Doping missbraucht haben, ist in den vergangenen sechs Jahren stark gestiegen – von 4,7 auf 6,7 Prozent. Vor allem Beschäftigte mit einfachen Tätigkeiten oder unsicheren Jobs gehören zu den Risikogruppen für den Medikamentenmissbrauch.
Nach den Ergebnissen des DAK-Gesundheitsreports 2015 gibt es zudem eine hohe Dunkelziffer von bis zu zwölf Prozent. Hochgerechnet auf die Bevölkerung haben damit fünf Millionen Erwerbstätige schon einmal leistungssteigernde oder stimmungsaufhellende Medikamente zum Hirndoping eingenommen. Und: Unter den übrigen Erwerbstätigen ist jeder Zehnte für diese Form des Hirndopings prinzipiell aufgeschlossen. Regelmäßig dopen sich laut Studie knapp eine Million Berufstätige (1,9 Prozent).«

Die Verfasser dieser Zeilen kennen offensichtlich das Geschäft und die Grundregeln der modernen Medienwelt: Skandalisieren und dramatisch daherkommende Zahlen. So formulieren die das auch. Ein "starker Anstieg" (von 4,7 auf 6,7 Prozent der Arbeitnehmer). Zuzüglich einer geschätzten "Dunkelziffer" von bis 12 Prozent und schon sind wir bei "fünf Millionen Erwerbstätigen". Das hört sich schon mal besser an, auch wenn darunter viele sind, die das nur einmal ausprobiert haben. Regelmäßige Nutzer dieses Ansatzes sind "nur" knapp eine Million Berufstätige. Fünf ist aber eben dramatischer und viele Medien greifen diesen Wert dann auch auf.

Es soll und kann an dieser Stelle gar nicht andiskutiert werden, welche Ursachen in der Arbeitswelt dazu führen (können), ein solches, möglicherweise gesundheitsschädliches Verhalten zu befördern. Oder liegt es vielleicht doch eher an Persönlichkeitsmerkmalen der Betroffenen?
Hier geht es um einen anderen Aspekt: Wenn man bedenkt, wie heutzutage viele Arbeitsplätze verdichtet und mit Belastungsfaktoren geflutet sind, dann könnte man die Werte auch ganz anders lesen: 98,1% der Arbeitnehmer dopen eben nicht regelmäßig und selbst wenn man die behauptete Dunkelziffer berücksichtigt, die dazu führt, dass de Zahl der regelmäßig oder eben auch nur einmaligen Doper auf "bis zu fünf Millionen" Menschen ansteigt, also 12 Prozent der Berufstätigen, dann bleibt immer noch der Tatbestand bestehen, dass 88 Prozent der Beschäftigten nicht zu den genannten Gruppen gehört. Nicht nur die Mehrheit, sondern eine sehr große Mehrheit.

Ach, nicht nur die Statistik, sondern auch die Arbeit. Was ist das eigentlich, Arbeit? Nicht erschrecken, jetzt folgen keine grundlegenden Abhandlungen über den Begriff der Arbeit. Man kann sich dem auch ganz anders nähern - und das sei hier empfohlen:

Es geht um ein Filmprojekt von Harun Farocki: Was versteht man heute unter Arbeit? So lautete die Fragestellung. Die Filmemacher Harun Farocki und Antje Ehmann sind dem Thema Arbeit in einem Langzeit-Projekt nachgegangen. Die Ergebnisse in Form eines Filmarchivs sind jetzt im Netz zu sehen: Eine Einstellung zur Arbeit.

Und es handelt sich um eine besondere Art und Weise der filmischen Dokumentation: Jede Art von Arbeit kann gezeigt werden, der Film darf höchstens zwei Minuten lang sein, nur in einer einzigen Einstellung aufgenommen werden, es soll keine Schnitte geben. So entstanden mehr als 400 kurze Filme zum Thema Arbeit, und alle sind, ohne "Qualitätsprüfung", so Farocki, wie in einem Archiv auf der Website zu sehen.

Reinschnuppern - und mehr - lohnt sich.