Sonntag, 26. Januar 2014

Jenseits der sozialpolitischen Baustellen in Deutschland, aber inmitten der Frage nach unserer Mit-Verantwortung: Bangladesch, Katar und Indien

Screenshot-Collage Süddeutsche Zeitung, Spiegel Online und Guardian
Immer wieder ist es angebracht, über den nationalen Tellerrand der sozialpolitischen Baustellen hinauszuschauen und den Blick zu weiten. Schauen wir also nach Bangladesch, nach Katar und nach Indien.

Viele werden sich erinnern: Es war die (bisher) größte Katastrophe in der Geschichte der Textilindustrie: 1.130 Menschen starben im April 2013 beim Einsturz einer Fabrik in Bangladesch, 332 Menschen gelten immer noch als vermisst. Es gab mindestens 1.800 Verletzte. Eine kurze Zeit lang wurden die Arbeitsbedingungen der vielen Näherinnen in Bangladesh thematisiert und eine im Ansatz kritische Diskussion über unsere Mit-Verantwortung schaffte es gar auf die Talkshow-Ebene, beispielhaft sei hier erinnert an die Sendung "Billigkleidung aus Bangladesch – sind wir schuld am Tod der Näherinnen?" von Günther Jauch im ARD-Fernsehen am 26.05.2013 - um dann schnell wieder abgelöst zu werden von anderen Themen und Ereignissen. Immerhin hieß es dann, die betroffenen Menschen und Familien vor Ort in der Textilhölle werden entschädigt und einige Textilkonzerne übten sich nach außen in Nachdenklichkeit. Vor diesem Hintergrund muss dann diese Meldung wieder einmal enttäuschen: »Fast ein Jahr danach warten die Näherinnen immer noch auf Hilfe der Firmen, für die sie geschuftet haben. Doch die schieben sich gegenseitig die Verantwortung zu«, so kann man es dem Artikel mit der zutreffenden Überschrift "Im Stich gelassen" entnehmen.

In dem Artikel von Hans Leyendecker und Anne Ruprecht wird beispielhaft die Geschichte der Näherin Jasmin Akther erzählt. Sie »arbeitete in der achtstöckigen Textilfabrik Rana Plaza in Dhaka, der Hauptstadt von Bangladesch. Sie nähte Blusen für Deutschland, T-Shirts für England und was sonst noch so alles im Dauer-Akkord produziert werden musste. Immer war "Deadline". Ihr Monatslohn lag weit unter 50 Dollar, trotz der vielen Überstunden.« Dann kam der Einsturz der Fabrik, in der sie gearbeitet hat. »Jasemin Akther überlebte. Aber sie wurde schwer verletzt, kann kaum noch gehen, nicht mehr arbeiten. Ihre Familie kommt nur schwer über die Runden. Sie hat einen Kredit aufnehmen müssen und muss für diesen Kredit 40 Prozent Zinsen zahlen. Die Näherin wartet auf Hilfe der Unternehmen, für die sie geschuftet hat. Sie wartet auch auf Hilfe deutscher Firmen.«

Was wurde den Menschen nicht alles versprochen, so lange die Journalisten aus aller Welt ihr Blitzlicht auf die Szenerie gerichtet hatten. Das ist nun aber schon lange vorbei.
Großzügige Entschädigungen für die Hinterbliebenen der Toten, volle Bezahlung der medizinischen Kosten, Weiterzahlung von Löhnen und, wenn irgend möglich, sichere Renten wurde den Menschen wie eine nicht erreichbare Wurst vor die Augen gehängt.

Und wie sieht die Bilanz aus?

»Nur die irische Firma Primark hat eine Million Dollar für Soforthilfe auf den Weg gebracht und sich um medizinische Versorgung gekümmert.« Und die anderen? Schätzungsweise 29 Modeunternehmen aus aller Welt haben aus Rana Plaza Waren bezogen. Billigketten wie Walmart (USA) waren darunter. Auch Marken des mittleren Segments wie etwa Benetton (Italien). Auch die drei deutschen Unternehmen, KiK, Adler Mode und NKD waren darunter. Auf Initiative von Gewerkschaften und der Kampagne für saubere Kleidung (CCC) wurden alle Unternehmen Mitte September vergangenen Jahres nach Genf zu Entschädigungsverhandlungen bei der ILO, der Internationalen Arbeitsorganisation der UN, eingeladen. Ganze neun Unternehmen schickten Leute nach Genf. Aus Deutschland kam nur Kik. Die allermeisten Unternehmen blieben den Verhandlungen fern.
Die Unternehmen warten ab, verweisen auf dunkle Sub-Lieferanten.

Der Artikel endet nicht ermutigend: »Die Näherin Jasemin Akther erkennt die KiK-Bluse aus der "Verona Pooth Kollektion 2013", die in den Trümmern lag, sofort wieder. Sie drückt sie an sich - eine Erinnerung an diesen schrecklichen Tag, den viele da draußen längst vergessen haben.«

Dass internationale Aufmerksamkeit und Protest schnell wieder verpufft und man so weiter machen kann wie vorher - diese Erfahrungen machen nicht nur Näherinnen in Bangladesch, sondern auch die Sklavenarbeiter aus dem Nepal und anderen asiatischen Ländern, die auf den Baustellen für die Fußballweltmeisterschaft 2022 in Katar schuften müssen. So kann man dem Artikel "Erneut Dutzende Tote auf WM-Baustellen" entnehmen: »Die internationalen Proteste gegen die menschenunwürdigen Bedingungen auf den WM-Baustellen in dem Wüstenland haben nichts bewirkt - es sterben nach wie vor Dutzende ausländischer Arbeiter.« Bereits im September des vergangenen Jahres wurde weltweit über skandalöse Zustände auf den Baustellen in Katar berichtet und man hätte erwarten können, dass sich wenigstens etwas ändert. Nun aber neue Schreckensmeldungen, deren Quelle ein Artikel ist, der im "Guardian" veröffentlicht wurde: "Qatar World Cup: 185 Nepalese died in 2013 – official records". Eine erschreckende Bilanz tut sich hier auf:

»According to the documents the total number of verified deaths among workers from Nepal – just one of several countries that supply hundreds of thousands of migrant workers to the gas-rich state – is now at least 382 in two years alone. At least 36 of those deaths were registered in the weeks following the global outcry after the Guardian's original revelations in September.«

Wie in dem Zitat bereits angedeutet - es war ebenfalls der "Guardian", der im verhangenen Jahr die öffentliche Wahrnehmung für die unhaltbaren Zustände in Katar überhaupt erst hergestellt hat, vgl. hierzu den Artikel Revealed: Qatar's World Cup 'slaves' vom 25. September 2013.
»Die Gesamtzahl der Opfer, die das umstrittene Großereignis inzwischen gefordert hat, dürfte wesentlich höher liegen. Denn die Regierungsdokumente, die dem "Guardian" vorliegen, stammen nur aus Nepal. Die Nepalesen stellen aber lediglich ein Sechstel der insgesamt rund zwei Millionen Mann starken Gastarbeiterarmee in Katar - Tote aus weiteren Nationen sind also sehr wahrscheinlich«, so Spiegel Online.

Die Bestandsaufnahme ist ernüchternd: Die katarischen Scheichs »beuten die Gastarbeiter weiterhin systematisch aus, pferchen sie in armselige Unterkünfte und scheren sich nicht um die Sicherheit auf den WM-Baustellen. Und die Fußballfunktionäre setzen ihnen kaum etwas entgegen.« Und genau da liegt der Link zu unserer Mit-Verantwortung, denn natürlich könnten und müssten die nationalen Fußballverbände und unter ihnen besonders die großen und einflussreichen Druck ausüben auf die Funktionäre der Fifa, damit die sich endlich bewegen.

Statt dessen lernen wir eine weitere Lektion, die vor allem für die Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) eine ganz wichtige darstellt: Die Scheidegrenze zwischen konkreter Verbesserung der Lebenslage der Menschen, für die man sich einsetzt, und der Instrumentalisierung durch die, die sich an den Menschen bereichern, ist eine ganz schmale. Das muss CCC gerade von den Textilkonzernen in Bangladesch erfahren und im Fall von Katar erfahren wir:

»Der Chef des WM-Organisationskomitees, Hassan al-Thawadi, verkündete in der vergangenen Woche via "Bild"-Zeitung erste Erfolge. So sei eine Charta für den Arbeitsschutz entwickelt worden, die mit Human Rights Watch und Amnesty International besprochen worden sei. Bei den Organisationen ist das Papier allerdings bislang nicht angekommen. In der "Süddeutschen Zeitung" dementierten Sprecher beider Organisationen, ein entsprechendes Papier gesehen zu haben.«

Abschließend soll noch über Indien berichtet werden – ein weiteres Beispiel für das, worum es sowohl in Bangladesch wie auch in Qatar letztendlich geht: Sklavenarbeit in "modernen Zeiten". Und wieder hat das wie in Katar mit einer boomenden Bauwirtschaft zu tun, nur in diesem Fall nicht, um für einige wenige Wochen gigantische Fußball-Arenen in die Wüste zu setzen, damit sich die Weltfußballgemeinde für ein paar Spiele daran ergötzen kann, sondern in Indien geht es um einen generellen Bauboom, der mit dem wirtschaftlichen Wachstum dieses riesigen Schwellenlandes verbunden ist und von diesem vorangetrieben wird.  Ein Bestandteil dieses Baubooms ist eine stetig steigende Nachfrage nach Ziegeln, für deren Produktion Menschen, darunter sogar Kinder, unter sklavenähnlichen Bedingungen eingesetzt werden. So jedenfalls die Erkenntnisse, die man einem Artikel des "Guardian" entnehmen kann: "Blood bricks: how India's urban boom is built on slave labour".  Es handelt sich um einen wirklich beeindruckenden Artikel, den man unbedingt gelesen haben sollte. Man schätzt, dass es landesweit mehr als 150.000 Ziegeleien gibt, in denen etwa 10 Millionen Menschen beschäftigt sind.

Andrew Brady von Union Solidarity International (USI), einer NGO aus Großbritannien, die sich für die Verbesserung der Arbeite- und Lebensbedingungen der in der indischen Ziegelindustrie beschäftigten Menschen engagiert, wird mit einer harten Bewertung zitiert: “It's modern-day slavery". Und weiter wird er zitiert mit den Worten: »Entire families of men, women and children are working for a pittance, up to 16 hours a day, in terrible conditions. There are horrific abuses of minimum wage rates and health and safety regulations, and it's often bonded labour, so they can't escape.« Ein BBC-Bericht hat Anfang des neuen Jahres sogar vierjährige Kinder entdeckt, die zur Arbeit eingesetzt worden sind.

Und auch hier werden wir - wie so oft - Zeuge der enormen Kluft zwischen Theorie und Praxis:

»New guidelines for multinationals, introduced in 2011 by the United Nations and the Organisation of Economic Cooperation and Development, specify that such companies should have direct responsibility for human rights abuses anywhere in their supply chains. But little is being done to enforce these regulations.«

Zumindest gibt es jetzt eine "Blood Bricks Campaign", die versucht, ein Stück weit Öffentlichkeit herzustellen. Man sollte das nicht geringschätzen:
»In partnership with Indian human rights group, Prayas, they have been working to organise brick kiln workers into unions, an initiative that has already seen 70% wage rises in some areas.«

Aber die Akteuere sind sich bewusst, dass es mehr internationalen Druck geben muss, damit sich was ändert:

»The campaign comes after the Observer's recent revelations of horrific labour abuses on Abu Dhabi's new pleasure island of Saadiyat, where new outposts of the Louvre and Guggenheim museums are under construction. The investigation discovered thousands of workers living in squalid conditions, passports confiscated and trapped until they paid back hefty recruitment fees.«

Und so schließt sich wieder der Kreis zu den anderen Beispielen: "It's a world-wide issue", so wird Andrew Brady von Union Solidarity International (USI) zitiert. Und er soll hier auch das Schlusswort bekommen:

“We're merely using India as the example, but we've seen the same abuses with projects in Qatar and Brazil for the World Cup and Olympics – iconic projects built on the back of the blood and sweat of bonded labour. It's time to put an end to this trade in blood bricks.”